| # taz.de -- Folgen der Apartheid in Südafrika: „Keine Versöhnung ohne Heilu… | |
| > Nomarussia Bonase arbeitet mit Frauen, die sexualisierte Gewalt erlebt | |
| > haben – und dafür noch immer nicht entschädigt worden sind. | |
| Bild: Nomarussia Bonase wurde für ihr Engagement mit dem Anne-Klein-Frauenprei… | |
| taz: Frau Bonase, warum ist Ihre Arbeit wichtig? | |
| Nomarussia Bonase: Weil wir eine Wiedergutmachung fordern, die nie | |
| stattgefunden hat. Südafrika, die Nation, trägt ein weißes Kleid, aber | |
| darunter ist sie verrottet. Man sagt der Welt: Alles ist gut. Aber das ist | |
| es nicht. Die Opfer der Apartheid wurden nicht entschädigt. Und ihre | |
| Kinder, die Generation der Zukunft, auch. So bleiben wir ein Land der | |
| Opfer, außer wir arbeiten dagegen. Besonders weil viele Frauen nicht | |
| darüber sprechen können, was ihnen passiert ist. | |
| Was haben die Frauen erlebt? | |
| Nehmen Sie das Beispiel meiner Geburt. Ich wurde zum Opfer gemacht, als ich | |
| noch im Schoß meiner Mutter war. Mein Vater war ein Minenarbeiter, der | |
| nachts gearbeitet hat. Meine Mutter musste per Gesetz in einem anderen Teil | |
| des Landes leben und durfte meinen Vater nicht besuchen, denn das Ziel der | |
| Apartheid war, die volle Kraft der Männer zu nutzen, ohne dass Frauen sie | |
| ablenkten. | |
| Meine Mutter besucht also verbotenerweise meinen Vater und versteckt sich | |
| auf einer Farm. Während der Nacht führt die Polizei eine Razzia durch, eine | |
| Jagd nach Illegalen. Sie traten die Tür ein, vergewaltigten meine Mutter | |
| und ließen sie blutend zurück. Erst am Morgen fand mein Vater sie, noch | |
| immer blutend. Er dachte, dass sie eine Fehlgeburt haben würde, denn sie | |
| war im achten Monat schwanger. Aber ich überlebte. | |
| Wie gehen Sie damit um? | |
| Die Gewalt gegen meine Familie und viele andere ging immer weiter. Aber es | |
| gab nie eine Aufarbeitung. Wir wissen aber: keine Versöhnung ohne Heilung, | |
| keine Heilung ohne Kompensation. Deswegen machen wir Aktivisten weiter. Für | |
| die Zukunft müssen wir unsere eigene Vergangenheit kennen. Man muss mit den | |
| Wunden umgehen, um die Nation zu heilen. | |
| Hat die Regierung nach 1994 nicht genau das versucht? | |
| Oh, sie hat die Wahrheits- und Versöhnungskommission einberufen, ja. Die | |
| Täter sollten vorsprechen und um Vergebung bitten. Während dieser Zeit | |
| haben wir, als gewöhnliche, nicht privilegierte Überlebende der Apartheid, | |
| gedacht: Die wollen alle Täter sprechen. Was ist mit den Opfern? Warum | |
| wurden sie nicht gerufen? Diese Täter, wen bitten die denn um Vergebung? | |
| Nur die Leute im Parlament? Ist das Gerechtigkeit? Also wurde Khulumani | |
| gegründet. Khulumani, das heißt, „frei seine Meinung sagen“. Wir müssen | |
| erst über uns selbst sprechen, um darüber reden zu können, was für die | |
| Versöhnung getan werden kann. | |
| Viele Frauen können nicht frei sprechen. Auch weil die, die sexualisierte | |
| Gewalt erlebt haben, noch immer stigmatisiert werden. Einige davon kommen | |
| deswegen zu Ihnen. | |
| Tausende Frauen kommen zu Khulumani. Sie kommen mit ihrem Schmerz, und ich | |
| höre ihnen zu. Wir sprechen über das, was in der Vergangenheit passiert | |
| ist, was noch immer passiert, über die Nachwehen der Vergangenheit. Aber es | |
| kommt die Zeit, in der eine Frau nicht mehr reden kann. Sie weint und sie | |
| weiß, dass etwas in ihr ist. Aber sie kann nicht davon erzählen, weil der | |
| Schmerz nicht zu ertragen ist. Damit beginnt die Heilung. | |
| Was machen Sie dann? | |
| Weil ich wissen muss, was in dieser Person ist, lasse ich sie zeichnen. | |
| Beim Zeichnen beginnt die Erlösung von den Schmerzen. Durch ihre Kunst | |
| erinnert sich die Frau an das, was sie mir nicht sagen konnte. Die ersten | |
| Bilder der Frauen zeigen oft sexualisierte Gewalt. Doch manchmal ist das so | |
| schmerzhaft, dass sie es nicht mal zeichnen können. Deswegen zeichnen sie | |
| auch die Auswirkungen, etwa ihr Leben mit HIV. Durch die Zeichnung kommt | |
| die Gewalt raus – auch die, die sich in ihren Familien abspielt. Diese | |
| gezeichneten Geschichten dokumentiere ich. | |
| Sie legen die Geschichten auch Untersuchungsausschüssen vor, wie etwa dem | |
| zum Marikana-Massaker 2012. Damals erschossen Polizisten an einem einzigen | |
| Tag 34 Menschen während eines Streiks, angeblich aus Notwehr. | |
| Ja, damit hat es angefangen, mit den Witwen der Minenarbeiter, die während | |
| dieses Streiks erschossen wurden. Das alles war eine Nachwehe der | |
| Apartheid, denn die Männer haben für mehr Lohn und Sicherheit gestreikt. | |
| Und nun saßen diese Frauen in der Untersuchungskommission, sahen die Bilder | |
| der Erschießungen und brachen in Tränen aus. Sie konnten es nicht ertragen. | |
| Das war der Moment, in dem ich angefangen habe, sie zeichnen zu lassen. | |
| Jetzt können sie darüber sprechen, was in ihren Herzen ist. Schließlich | |
| waren sie in der Lage, ein Memorandum zu verfassen. Jetzt liegen der | |
| Kommission ihre Geschichten vor. Und die Frauen gingen gestärkt und als | |
| vereinte Gruppe aus dem Erlebnis hervor. | |
| Zeichnen Sie selbst? | |
| Auch ich zeichne für meine Heilung. | |
| Was beschäftigt Sie? | |
| 1993 kam es im Gebiet East Rand zu extremer Gewalt. Tage wurden zu Wochen, | |
| Wochen wurden zu Monaten und Monate wurden zu Jahren der politischen | |
| Gewalt. Zu dieser Zeit starben viele Menschen. So viele, dass die | |
| Leichenhallen überfüllt waren. | |
| Um was ging es bei den Kämpfen? | |
| Rivalisierende Parteien des Widerstands kämpften gegeneinander, dann kam | |
| auch noch die Regierung hinzu. Es war ein Kampf innerhalb und gegen die | |
| Bevölkerung. Hunderte Menschen starben. Während dieser Zeit wurde auch mein | |
| Bruder getötet. Er lag in diesen Massen von Toten. Frauen sollten sich | |
| damals hinsetzen und trauern, wenn jemand starb. | |
| Die Männer gingen herum und gaben alle Informationen weiter: Was ist | |
| geschehen? Wo ist der Körper? Ich wusste nur, dass mein Bruder getötet | |
| worden war. Denn ich hatte gesehen, wie er von Soldaten erschossen wurde | |
| und wie sie seinen Körper auf einen Van der Armee warfen. Aber die Männer | |
| sagten immer nur, dass sie nicht herausfinden konnten, wo sein Körper sei. | |
| Zwei Wochen lang. | |
| Was haben Sie unternommen? | |
| Ich stand auf und sagte, dass ich losgehen und ihn finden würde. Die Männer | |
| versuchten, mir das zu verbieten, mit ihrem typischen Blabla. Aber ich | |
| sagte: Ihr wart zwei Wochen draußen und habt ihn nicht gefunden, also lasst | |
| jetzt mich machen. Sie wollten es mir nicht erlauben. Als sie dann ein Taxi | |
| zur Leichenhalle nahmen, folgte ich ihnen und ging nach ihnen in die Halle. | |
| Als sie mich sahen, sagten sie: Nomarussia, du bist in der Leichenhalle, | |
| obwohl du das nicht darfst, aber bist du denn wirklich in der Lage, zu | |
| ertragen, was hier los ist? Ich sagte nur: Eine muss meinen Bruder ja | |
| finden. | |
| Haben Sie ihn gefunden? | |
| Die Hallen waren voll, absolut voll. Deswegen waren die Leichen nach | |
| draußen gebracht worden, aber auch da war es überfüllt. Sie lagen | |
| übereinander. Ein Netz über dem Außenbereich warf Schatten auf die Körper. | |
| Und nachdem man sie dort hingepackt hatte, war das Einzige, was sie kühlte, | |
| ein Wasserschlauch. | |
| Man konnte bereits sehen, dass die Insekten die Körper der Menschen fraßen. | |
| Ich musste an all diesen Hügeln vorbeigehen und genau hinsehen. Dann | |
| erkannte ich den Leichnam meines Bruders: an seinem Fuß! Ganz unten in | |
| einem Hügel von Leichen, da sah ich ihn. | |
| Was taten Sie? | |
| Ich sagte: Bitte helft mir. Lasst uns all diese Leichen vom Berg schaffen. | |
| Das ist der Fuß meines Bruders. Dann haben wir den Haufen abgetragen. So | |
| konnten wir ihn beerdigen. Die meisten anderen wurden in anonymen | |
| Massengräbern begraben. Wir nennen sie die Verschwundenen. Wenn ich meinen | |
| Bruder nicht gefunden hätte, würde ich noch immer so über ihn sprechen wie | |
| viele andere Frauen, die noch immer krank sind vor Sorge um ihre | |
| Verschwundenen, ihre Lieben. | |
| Woher nehmen Sie die Stärke? | |
| Die Stärke kommt aus meinem Körper. Die Person, die mir am meisten geholfen | |
| hat, stark zu sein, war mein Vater. Er nannte mich den Anführer der | |
| Familie. Und das gab mir diesen Mut. Auch zu den Treffen der Männer holte | |
| meine Familie mich immer dazu, obwohl Frauen traditionell nicht daran | |
| teilnehmen dürfen. Ihnen war wichtig, was ich zu sagen hatte. Wenn ich in | |
| der Gegend bin, organisieren die Chiefs Treffen mit mir. | |
| Sind sie noch wütend? | |
| Während wir gegen die Apartheid gekämpft haben, oh, da war ich wütend! Aber | |
| danach starben Menschen während der ersten freien Wahl . . . | |
| . . . weil sie eine „falsche“ Partei unterstützten und Attentaten zum Opfer | |
| fielen? | |
| Ja, nur weil sie selbst entscheiden wollten, wen sie wählen. Da habe ich | |
| erkannt, dass nichts aus Wut heraus getan werden darf. Wir müssen kreativ | |
| sein und Lösungen finden, und wir müssen die Seelen und Augen der Menschen | |
| öffnen. Wir müssen Diskussionsplattformen schaffen, Plattformen des | |
| Zuhörens. Wir müssen mit Individuen, Gruppen und Gemeinschaften umgehen, um | |
| die ganze Nation zu transformieren. | |
| Wie versuchen Sie die Politik davon zu überzeugen? | |
| Wir sagen ihnen: Wir, die Bürger, die Entscheidenden, wir erzählen euch | |
| jetzt, was bei uns los ist. Wir bitten sie, an die Tür zu klopfen und nach | |
| der Richtung zur Lösung zu fragen. Zu diesem Ort müssen sie selbst gehen. | |
| Aber unsere Regierung kann vieles, nur nicht zuhören. | |
| Hat Ihre Arbeit eine Chance? | |
| Khulumani ist der Schoß einer Frau: Dort werden Menschen geheilt und können | |
| beginnen, zu wachsen. Dieser Schoß ist unsere Zukunft. | |
| 20 Mar 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Johannes Drosdowski | |
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