# taz.de -- Familienpolitik in den Niederlanden: Mit Sicherheit Eltern | |
> Kinder sollen in den Niederlanden künftig bis zu vier juristische Eltern | |
> haben können. Für die Betroffenen ist das mehr als ein formeller Schritt. | |
Bild: Familie, was genau ist das eigentlich? | |
Die Familiengründung war ein langer Prozess. Denn bevor Janette Brouwer und | |
ihre Freunde Pepijn Zwanenberg und Ivo Verburg zu dritt ein Kind in die | |
Welt setzten, wollten sie sich über einiges einig werden. | |
Zum Beispiel über den Wohnort, die Kostenteilung, die Werte, die sie | |
vermitteln würden. Klar war den drei Niederländern allerdings auch: Ihr | |
Kind würden sie zwar zusammen großziehen, einer von ihnen würde aber nicht | |
wirklich gleichberechtigt sein. „Ich bin der Papa von Keet“, sagt Ivo | |
Verburg. „Aber rechtlich bin ich gar nichts.“ Wie in Deutschland können | |
auch niederländische Kinder bisher nur zwei Eltern im rechtlichen Sinne | |
haben – in Keets Fall ihre Mutter und Pepijn Zwanenberg, der auch ihr | |
biologischer Vater ist. | |
Inzwischen nimmt sich die Politik der Interessen von Regenbogenfamilien an. | |
Als erstes Land Europas könnten es die Niederlande ermöglichen, dass ein | |
Kind von Geburt an bis zu vier Personen als juristische Eltern hat. Im | |
vergangenen Dezember hat eine staatliche Kommission das vorgeschlagen, Ende | |
Januar beriet der zuständige Parlamentsausschuss erstmals darüber. | |
Wie viele Mädchen und Jungen in Regenbogenfamilien aufwachsen – darüber | |
gibt es auch in den statistikverliebten Niederlanden nur Vermutungen. Nach | |
Zahlen des Statistischen Zentralbüros lebten dort im Jahr 2014 rund 8.800 | |
Kinder und Jugendliche in Haushalten von zwei Frauen oder zwei Männern. Das | |
ist im Verhältnis zu den landesweit mehr als drei Millionen Minderjährigen | |
sehr wenig – aber doch deutlich mehr als 1996: Da waren es etwas mehr als | |
3.000. | |
Für Keet und ihre drei Eltern sind die Reformpläne gute Nachrichten – auch | |
wenn sie noch nicht wissen, inwieweit sie selbst davon profitieren würden, | |
weil das Kind ja schon auf der Welt ist. Die Väter sitzen am Küchentisch | |
auf ihrem Wohnboot in Utrecht, die Tochter sitzt zwischen ihnen. Ihre | |
Mutter Janette Brouwer wohnt nur ein paar Fahrradminuten entfernt. Sie und | |
das schwule Paar kennen sich seit mehr als 15 Jahren. Seit Keets Geburt im | |
Juni 2015 teilen sie sich das Sorgerecht. Die eine Hälfte der Woche ist das | |
Mädchen bei seiner Mutter, die andere bei seinen beiden Vätern. | |
Doch wenn Ivo Verburg zum Beispiel allein mit seiner Tochter ins Ausland | |
reisen will, braucht er eine schriftliche Erlaubnis seiner „Miteltern“. Die | |
Liste lässt sich fortsetzen. „Ich darf nirgendwo für Keet unterschreiben.“ | |
Nicht in der Schule, nicht im Krankenhaus, nicht auf dem Amt. Würde er ohne | |
Testament sterben, würde seine Tochter auch nichts von ihm erben. Noch habe | |
man mit der rechtlichen Beschränkung keine Probleme gehabt, sagt Pepijn | |
Zwanenberg. Aber wenn Keet älter werde, könne es immer wieder Situationen | |
geben, in denen Ivo Verburg für sie entscheiden muss. „Unserem Kind können | |
wir so nicht den rechtlichen Schutz bieten, den es braucht“, sagt er. | |
## Die Kritiker | |
Die scheidende sozialliberale Regierung hatte 2014 eine Kommission | |
eingesetzt. Das zehnköpfige Expertengremium sollte Vorschläge erarbeiten, | |
wie der Gesetzgeber das Familienrecht modernisieren und die Rechtslage an | |
die Wirklichkeit anpassen kann: An die Situation von Menschen wie der | |
Regenbogenfamilie in Utrecht, die nicht mehr im traditionellen Modell | |
Mutter/Vater/Kinder leben. Noch sind die Vorschläge nicht in Gesetze | |
gegossen, im März wird zunächst ein neues Parlament gewählt. Aber die | |
linken Parteien stehen hinter der Idee von Mehrelternfamilien, auch die | |
bisherige liberale Regierungspartei VVD. Damit wäre eine Mehrheit | |
wahrscheinlich. | |
Rechtspopulist Geert Wilders, dessen Partei nach den Wahlen wohl eine große | |
Fraktion stellen wird, hat sich zu dem Thema noch nicht konkret geäußert. | |
Wilders gibt sich bei der Gleichstellung von Homosexuellen aber gern | |
fortschrittlich – wohl auch im Wissen über die Einstellung vieler | |
Landsleute. Laut „European Social Survey“ von 2010 sind die Niederlande | |
beim Thema Homosexualität das toleranteste Volk Europas. Der Aussage | |
„Schwule und Lesben sollten ihr Leben führen können, wie sie möchten“ | |
stimmten in den Niederlanden 86 Prozent der Befragten zu – mehr als in | |
jedem anderen der 27 Länder in der Studie. | |
Trotzdem sind die Pläne auch umstritten. Der Jurist Ido Weijers bringt | |
seine Kritik in einem Gastbeitrag für die Zeitung de Volkskrant auf die | |
Gleichung: mehr Eltern, mehr Streit. In Mehrelternfamilien könnten | |
Scheidungen kompliziert werden – zulasten des Kindes. Ähnlich äußerte sich | |
der Adoptionsexperte René Hoksbergen bei einer Anhörung im Parlament. | |
„Natürlich kann unsere Beziehung in die Brüche gehen. Aber das passiert in | |
Heterofamilien genauso“, sagt dagegen Pepijn Zwanenberg. Im Zentrum stehe | |
das Wohl des Kindes. „Wir haben vor Keets Geburt bestimmt so intensiv über | |
unsere Situation nachgedacht wie sonst kaum jemand“, meint Ivo Verburg. | |
Hélène Faasen berät als Notarin in Amsterdam Regenbogenfamilien mit | |
Kinderwunsch. Und sie beobachtet, dass sich gerade diese Eltern auf eine | |
ganze Menge verständigen, bevor das Kind zur Welt kommt. Sie glaubt sogar, | |
dass der Nachwuchs in Regenbogenfamilien mehr Sicherheit haben kann: Wenn | |
die eine Beziehung scheitere, sei immer noch die andere Seite der Familie | |
da. Aber solange es nur zwei Eltern im juristischen Sinn gebe, seien die | |
jeweiligen Partner eben mit weniger Rechten ausgestattet. Deshalb hält | |
Faasen eine Reform auch für nötig. „Sonst fallen die Kinder in ein | |
rechtliches Loch.“ | |
## Die Bedingungen | |
Die Expertenkommission schlägt Bedingungen für die Mehrelternschaft vor: | |
Die Eltern müssen sie schon vor der Geburt des Kindes festlegen, einen | |
Vertrag aufsetzen und ihn richterlich absegnen lassen. Darin sollen sie | |
unter anderem festlegen, welchen Nachnamen das Kind bekommt, wie die Eltern | |
die Kosten und Aufgaben in der Erziehung aufteilen. Mit einer solchen | |
Reform würden die Niederlande durchaus neue Wege einschlagen. Eine | |
vergleichbare Regelung gibt es bisher nur in zwei kanadischen | |
Bundesstaaten. In Europa hat ein zusätzlicher Elternteil in Ländern wie | |
Belgien und Großbritannien allerdings das Recht, ein Kind nach dessen | |
Geburt zu adoptieren – ohne dass einer der eigentlichen Elternteile dafür | |
seine Rechte abgeben muss. Die Expertenkommission schlägt diese Adoption | |
durch einen dritten oder vierten Elternteil auch für die Niederlande vor, | |
um bestehenden Regenbogenfamilien entgegenzukommen – wie etwa der Familie | |
von Keet. Von der Mehrelternschaft von Geburt an würden sie nicht mehr | |
profitieren, da das Mädchen ja schon auf der Welt ist. | |
Und in Deutschland? Für Frauenpaare in einer eingetragenen | |
Lebenspartnerschaft ist die sogenannte Stiefkindadoption möglich: Eine Frau | |
kann das Kind ihrer Partnerin adoptieren, dafür muss der leibliche Vater | |
aber seine Rechte abtreten. Männerpaare haben dagegen nur die Möglichkeit | |
der Sukzessivadoption: Erst adoptiert der eine Partner ein Kind, das zur | |
Adoption freigegeben wurde, danach der andere. Aber es gilt immer: | |
Rechtliche Eltern können nur zwei Personen sein. Die | |
Grünen-Bundestagsabgeordneten Katja Dörner und Volker Beck haben im | |
vergangenen September ein Thesenpapier zum Thema Sorgerecht veröffentlicht. | |
Die Forderungen ähneln denen, die jetzt in den Niederlanden umgesetzt | |
werden könnten. Auch Dörner und Beck schlagen darin vor, dass neben den | |
leiblichen Eltern zwei weiteren Personen die „elterliche Mitverantwortung“ | |
übertragen werden kann. | |
Eine Mehrelternfamilie, wie in den Niederlanden geplant, wäre hierzulande | |
im Bundestag wohl noch nicht mehrheitsfähig. Für die Mannheimerin Marion | |
Lüttig wäre sie allerdings wünschenswert: „Das ist ein charmanter | |
Vorschlag, weil er Rechtssicherheit schafft“, sagt die 43-Jährige. Sie lebt | |
mit ihrer Frau und zwei Kindern zusammen und sitzt im Landesvorstand des | |
Lesben- und Schwulenverbands Baden-Württemberg. Im Alltag macht es ihrer | |
Erfahrung nach häufig keinen Unterschied, ob ein Elternteil auch den | |
rechtlichen Status einer Mutter oder eines Vaters hat – vor allem, wenn das | |
Umfeld über die Situation der Familie Bescheid weiß. Eine Regelung, wie sie | |
in den Niederlanden geplant ist, würde die Lage von Regenbogenfamilien aber | |
weiter verbessern: | |
„Dann würde der Staat anerkennen, dass alle betroffenen Erwachsenen | |
Verantwortung für ein Kind übernehmen wollen.“ | |
5 Mar 2017 | |
## AUTOREN | |
Fabian Busch | |
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