# taz.de -- Berlinale-Film aus der Türkei: „Viele Massaker ähneln einander�… | |
> In „Kaygı“ geht es ums Erinnern und Vergessen. Regisseurin Ceylan Özgün | |
> Özçelik über kollektive Traumata und die Wirkung von Nachrichten. | |
Bild: Algı Eke in der Rolle von Hasret, in „Kaygı“ | |
## taz: Frau Özçelik, Ihr Film „Kaygı“ feierte diese Woche seine Premiere | |
auf der Berlinale. Der Film handelt davon, wie traumatische Ereignisse aus | |
dem kollektiven Gedächtnis verschwinden können, und von der Unmöglichkeit, | |
sie aus dem individuellen Gedächtnis vollkommen zu verdrängen. Wieso haben | |
Sie sich in Ihrem Debütfilm für das Thema Gedächtnis entschieden? | |
Ceylan Özgün Özçelik: Ich habe einfach gemerkt, dass ich bestimmte Dinge | |
teilweise oder komplett vergesse. Das ist mir vor allem in den Jahren 2010 | |
und 2011 aufgefallen und diese Einsicht hat mich fassungslos gemacht. Ich | |
konnte mich im Gespräch mit einem Freund nicht mehr an den Namen eines | |
Massakers erinnern, das nicht sehr lange her war. Natürlich habe ich es | |
gegoogelt, und gemerkt: Wir können uns heute ohne die Hilfe von Google an | |
vieles nicht mehr richtig erinnern. | |
Ich lebe seit zehn Jahren in derselben Nachbarschaft, doch wenn es dort | |
eine neue Baustelle gibt, kann ich mich schon nicht mehr daran erinnern, | |
was dort vorher stand. Die Nachbarn wissen es auch nicht mehr. Diese | |
Vergesslichkeit hat mich ziemlich beschäftigt. Danach fing ich an, zum | |
Thema Vergessen zu recherchieren und fand dabei sehr interessant, dass | |
Vergessenes meist in Form von Albträumen zurückkehren kann. | |
## Sie arbeiten im Film mit einigen Anspielungen auf das Massaker von Sivas | |
im Jahr 1993, bei dem 37 Menschen ums Leben kamen. Während der Proteste | |
gegen ein alevitisches Kulturfestival wurde ein Hotel in Brand gesteckt, in | |
dem die Festivalteilnehmer Schutz suchten. Die Anspielungen verstärken sich | |
erst im Laufe ihres Films. Versuchen Sie, mit diesen Metaphern auch das | |
Gedächtnis des Zuschauers zu testen? | |
Als ich anfing an dem Film zu arbeiten, war bloß klar: Da ist eine Frau, | |
sie arbeitet in den Medien, diese Frau wird von einem Albtraum verfolgt und | |
versucht ihn zu entziffern. Vergessen, Verdrängen, Gedächtnis, Erinnerung – | |
das sind die Themen des Films. Und nirgends wird Sivas konkret | |
angesprochen. Natürlich habe ich Metaphern verwendet, die an Sivas erinnern | |
sollen, doch es gibt in der Menschheitsgeschichte unzählige Massaker und | |
viele ähneln einander: Eine Gruppe von Menschen wird irgendwo eingesperrt, | |
gelyncht, gar verbrannt. | |
Massaker haben keine Religion, Religion dient nur häufig als Vorwand. Dass | |
ich Sivas als Beispiel gewählt habe, hat mit meinem eigenen Gedächtnis zu | |
tun. Ich kann mich schwammig daran erinnern, als Kind die Aufnahmen des | |
Massakers im Fernsehen gesehen zu haben. Diese Menschen verbrannten, und | |
weder die damalige Regierung unternahm etwas dagegen, noch wir Zuschauer. | |
## Ist es nicht erschreckend, dass das Sivas-Massaker im Fernsehen | |
übertragen wurde, jedoch 24 Jahre später von der Mehrheit der türkischen | |
Bevölkerung vergessen wurde? | |
Eigentlich ist es so: Der Sivas-Prozess dauerte zwanzig Jahre lang, bis er | |
verjährte. In den Prozessakten finden sich wichtige Details. So gibt es | |
neben den Videos, die im Fernsehen liefen, wohl Aufzeichnungen, die den | |
ganzen Tag, den gesamten Hergang bis zum Brandanschlag dokumentieren. | |
Wir sprechen hier von sieben bis acht Stunden. Erst trafen sich nur 500 | |
Menschen vor dem Kulturzentrum, um zu protestieren. Dann, innerhalb von | |
sieben Stunden, versammelten sich 15.000. Doch als Parlamentsgesandte nach | |
Sivas reisten, um die Ereignisse zu dokumentieren, war plötzlich ein | |
Großteil der Videoaufzeichnungen verschwunden. Das heißt: Dieses Massaker | |
wurde nicht nur aus unseren Gedächtnissen entfernt, sondern auch aus den | |
Archiven. | |
## Die Medien spielen eine große Rolle im Film. Die Hauptfigur Hasret | |
arbeitet für einen Fernsehsender und wird gegen ihren Willen in den | |
Newsschnittraum versetzt. Dort ist sie erschüttert von der Art, wie | |
Nachrichten produziert werden. Wie einflussreich sind Nachrichten heute | |
noch? | |
Sehr einflussreich. Da wir alle in gewisser Weise Teil der Medien sind, | |
findet auch eine Verunreinigung von Nachrichten statt. Ich meine, wenn uns | |
klassische Nachrichten erreichen, ist das ja schon eine inszenierte Version | |
von einem Ereignis. Dazu kommen die Sozialen Medien, bei denen wir anfangs | |
noch dachten, das sei jetzt ein direkter, unverfälschter Kanal, um an | |
Informationen zu gelangen. | |
Allerdings hat sich das schnell geändert, weil wir gemerkt haben, dass man | |
auch Nachrichten aus den Sozialen Netzwerken nicht trauen kann. Mithat | |
Sancar hat in seinem Buch etwas interessantes zu diesem Thema geschrieben: | |
„Erinnerungen, die heute noch lebendig sind, werden morgen nur noch über | |
die Medien übertragen.“ Das heißt, wenn es uns in 30 Jahren nicht mehr | |
gibt, und wir von unseren Erlebnissen nicht mehr berichten können, wird es | |
nur noch die Wahrheiten geben, die die Medien archiviert haben. | |
## In „Kaygı“ fängt Hasret an, daran zu zweifeln, dass ihre Eltern bei | |
einem Autounfall ums Leben kamen. Sie beginnt zu recherchieren, aber findet | |
überhaupt keine Informationen zu dem Tag, an dem ihre Eltern gestorben | |
waren. In der Folge schließt sie sich zu Hause ein und antwortet nicht mehr | |
auf die Anrufe ihrer Freunde. Wenn wir Hasret als eine archetypische Figur | |
unserer Zeit begreifen wollen, wofür steht sie? | |
Derzeit rücken weltweit einige Regierungen nach rechts, weshalb der Hass | |
und die Verzweiflung der Menschen immer größer werden. Wenn wir Zeit mit | |
unseren Freunden verbringen, ist es fast unmöglich, nicht über das aktuelle | |
Weltgeschehen zu sprechen. Und wenn dann alle wieder allein in ihren | |
Wohnungen sind, erlebt jeder sein eigenes Trauma. | |
Es ist vollkommen natürlich mit der Paranoia zu leben, dass auch mir jeden | |
Moment was passieren könnte, dass ich bei einem Bombenanschlag ums Leben | |
komme. Es ist normal, dass wir uns zu Hause einsperren wollen. Hasret steht | |
eigentlich für dieses Bedürfnis, sich abzuschotten. | |
## Sind die psychischen Probleme, die Hasret nach und nach offenbart, auch | |
nur eine natürliche Konsequenz aus dem Widerspruch zwischen der Wahrheit, | |
die ihr die Welt präsentiert, und der Wahrheit, an die sie selbst glaubt? | |
Ja, ich finde schon. Denn es ist ja nicht so, dass Hasret völlig verrückt | |
wird. Das ist zum Beispiel etwas, das ich an der Schauspielerin Algı Eke so | |
großartig finde: Sie spielt die Rolle von Hasret nicht betont neurotisch. | |
Das würde nicht passen. Denn die Stimmen, die Hasret hört, und die | |
Halluzinationen, die sie hat, sind Erinnerungen. Und Erinnerungen sind ja | |
nicht verstörend. | |
Verstört ist Hasret erst, als sie merkt, dass sie die Erinnerungsfetzen | |
nicht zusammensetzen kann und dass sie an keine Informationen kommt. Das | |
ermüdet sie und macht sie auch asozial. Man kann das schon psychisch labil | |
nennen, aber es ist kein Wahnsinn. | |
## Eine wichtige Rolle nimmt der Lärm in „Kaygı“ ein. Haben Sie früher | |
schon im Bereich Sound gearbeitet? | |
Nein, ich hatte keine Erfahrungen, allerdings war mir der Sound bei diesem | |
Film sehr wichtig. Ich habe mit dem Sounddesigner Fatih Rağbet zusammen | |
gearbeitet und wir fingen bereits sieben Monate vor dem Dreh an, am Ton zu | |
arbeiten. Bei der Postproduktion war der Sound auch der Part, der am | |
Längsten gedauert hat. Anfangs wollte ich gar keine Musik benutzen, aber | |
Fatih hat mich davon überzeugt, dass Musik sehr wichtig für diesen Film | |
ist. | |
Also haben wir uns mit der Komponistin Ekin Fil zusammengesetzt und sehr | |
lange diskutiert. Dennoch liegt die Betonung nun auf industriellen Sounds, | |
auf Baustellenlärm und all den Geräuschen, die in einer Wohnung vernehmbar | |
sind. Wir haben alles hochgepegelt. Wenn ein Hammer ertönt, sollte es so | |
klingen, als würde er in Hasrets Kopf hämmern, und in den Köpfen der | |
Zuschauer – weil wir ja auch nur gucken, aber nichts unternehmen. | |
## Es heißt, Sie hätten den Film über Crowdfunding finanziert. | |
Das stimmt eigentlich nicht ganz. Wir hatten geplant, 50.000 Lira (ca. | |
12.500 Euro, Anm.d.Red.) über Crowdfunding zu sammeln und das haben wir | |
geschafft. Allerdings ist dieses Geld für ein Filmbudget natürlich nicht | |
sonderlich viel. Weil es mein erster Film ist, haben wir es nicht auf einer | |
internationalen, sondern auf einer türkischen Plattform versucht. Und da | |
läuft es ein bisschen anders. Auf (der US-Crowdfunding-Plattform, | |
Anm.d.Red.) indiegogo spendet man zum Beispiel nur fünf Dollar, aber weil | |
so viele Leute spenden, kommt sehr viel Geld zusammen. | |
In der Türkei wollen die Leute mehr Geld spenden, dafür sind es insgesamt | |
weniger Menschen. Das passt eigentlich nicht so richtig zu der Logik des | |
Crowdfundings. Darüber hinaus haben wir eine Förderung vom | |
Kulturministerium bekommen und einen Work-in-Progress-Geldpreis beim | |
Istanbul Film Festival Köprüde Buluşmalar gewonnen. Außerdem hatten wir | |
Sponsoren, die uns Equipment gestellt haben. | |
## Die Blickweise auf Istanbul in Ihrem Film ist sehr realistisch. Wir | |
sehen sehr viele Baustellen und Betonhaufen. Hätte „Kaygı“ auch in einer | |
anderen Stadt spielen können? | |
Ja, ich finde schon. Auf der einen Seite ist Istanbul wichtig, weil wir als | |
Stadtbewohner an den Baustellenlärm und die Sirenen gewöhnt sind. Der | |
chaotische Zustand der Stadt, der ständige Umbau ist normal für uns. Aber | |
ich habe gemerkt: Auch wenn ich in Brüssel oder in Berlin bin, sehe ich | |
ständig Baustellen. Insofern denke ich, dass der Film auch in jeder anderen | |
Großstadt hätte spielen können. | |
## Würden Sie sagen, dass „Kaygı“ ein politischer Film ist? | |
Ich hatte von Anfang an die Absicht, einen atmosphärischen Film zu machen. | |
Aber für mich ist Kino immer etwas Politisches. Auch dass meine Hauptfigur | |
eine Frau ist, kann als politische Entscheidung gewertet werden. | |
16 Feb 2017 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
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