Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Bargeld-Einschränkung in Indien: Den Schein wahren
> Die meisten Geldscheine in Indien sind seit letzter Woche ungültig. Doch
> viele Inder haben kein Bankkonto. Es ist ein großes soziales Experiment.
Bild: Rettet die alte Rupie: Diese Aktivisten sind gegen die Reform
Delhi taz | Delhis Oberschicht hat ein neues Feierabendhobby, das manche
gar mit sadistischem Spieltrieb zelebrieren: die Jagd nach funktionierenden
Geldautomaten. In schweren SUVs fahren die Gutbetuchten von Bank zu Bank,
eine Smartphone-App zeigt an, in welchem Winkel der Stadt es noch
Geldscheine geben soll.
Wenn die Hilfe der Technik versagt, dann versucht man, beim
Sicherheitswachmann die Lieferzeit des nächsten Geldtransporters in
Erfahrung zu bringen. Am Ende ist die Bargeldjagd ein undankbares Spiel:
Die Siegeschancen gehen gegen null. Man spielt schließlich gegen
Abermillionen.
Seit anderthalb Wochen sind 100-Rupien-Scheine, umgerechnet rund 1,40 Euro,
zum seltenen Objekt der Begierde geworden. Am 8. November nämlich erklärte
Indiens Premierminister Narendra Modi über Nacht sämtliche 500- und
1000-Rupien-Scheine für ungültig. Das sind immerhin 86 Prozent des gesamten
Bargeldbestandes in Indien. Wer solche Scheine hat, muss sie umtauschen.
Seitdem bilden sich von Morgengrauen bis Sonnenuntergang Menschenschlangen
vor den Banken. Die Geldautomaten, wo man gültiges Geld bekommt, leeren
sich schneller als der Akku eines iPhones.
## Ein einmaliges soziales Experiment
Was derzeit in der indischen Hauptstadt passiert – mit 25 Millionen
Einwohnern immerhin die drittgrößte Metropolregion der Welt –, ist ein
einmaliges soziales Experiment mit ungewissem Ausgang. Fast 80 Prozent
aller Transaktionen werden in Indien mit Bargeld abgewickelt, viele
Ersparnisse werden in den jetzt ungültigen Scheinen gehortet.
Wer kein Cash hat, kann weder beim Gemüsehändler einkaufen noch U-Bahn
fahren, noch am Eckkiosk Zigaretten holen. „Natürlich ist es schwierig,
aber wir müssen jetzt alle zusammenhalten. Es geht schließlich um unsere
Nation“, sagt Abhijeet auf dem abendlichen Heimweg von der Bibliothek. Der
23-Jährige bereitet sich auf die Beamtenprüfung vor. Die Einschnitte für
ihn persönlich hielten sich in Grenzen, sagt er.
Oft hört man in diesen Tagen solche patriotischen Durchhalteparolen. Die
loyalsten Modi-Anhänger finden sich dabei ausgerechnet unter denjenigen,
die am härtesten betroffen sind: Rikschafahrer, Tagelöhner, Bedienstete.
Die Privilegierten treibt vor allem die Sorge um, wie sie nun ihre Fahrer,
Reinigungskräfte und Kochs bezahlen sollen. „Die haben ja alle keine
Bankkonten“, sagt Saurabh. Der Anfang 30-Jährige ist ein typischer
Vertreter der Elite: Er vermietet die Wohnungen seiner Eltern an Westler
und finanziert damit seinen hedonistischen Lebensstil.
Leute wie er haben sich bestens mit der neuen Situation arrangiert. Das
Uber-Taxi lässt sich mit der Bankkarte zahlen wie die meisten
Essenslieferdienste und Multiplexkinos. Wer aus diesen Kreisen doch mal
Bares braucht, kommt nicht auf die Idee, sich selbst in die
Menschenschlangen vor den Banken einzureihen. Man bezahlt andere zu warten.
## Das Sparschwein der Tochter geschlachtet
Auf einer Dachterrassenparty unter Journalisten berichtet ein Kollege, dass
er am Morgen das Sparschwein der vierjährigen Tochter schlachten musste.
Sein Gegenüber prahlt damit, dass er Trinkgeld in US-Dollars zahlt. Eine
dritte Kollegin jammert, ein gutes Kilo zugenommen zu haben: Da sie nur
mehr mit Karte zahlen kann, esse sie fast täglich McDonald’s.
Es sind befremdliche Anekdoten, schließlich sterben fast täglich Inder an
den Folgen der Bargeldkrise – etwa während des stundenlangen Wartens vor
den Banken. Oder weil sie die Notfallambulanz mit den wertlos gewordenen
Scheinen nicht mehr bezahlen können. In sozialen Netzwerken lernt man
hingegen, wie man sein Schwarzgeld wäscht: getarnt als Tempelspenden, über
angemietete Geldkuriere, oder indem man sein Personal mit den alten
Scheinen ein halbes Jahr im Voraus bezahlt.
„Ist es nicht frustrierend, wie viel Energie wir Inder dafür aufwenden,
bloß um nicht die Regeln einhalten zu müssen?“, sagt eine indische
Journalistin beim Feierabendbier. „Dabei ist das Schlimmste, was uns
passieren kann, dass wir Steuern zahlen müssen.“
20 Nov 2016
## AUTOREN
Fabian Kretschmer
## TAGS
Bargeld
Indien
Narendra Modi
Chaos
Kolumne Stadtgespräch
Indien
Geld
Indien
Indien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Folgen der Demonetarisierung in Indien: Wenn der Schein trügt
Vor einem Jahr wurden in Indien über Nacht mehr als drei Viertel des
Bargelds entwertet. Die Folge: Jobverlust, Korruption und Tod.
Neuer 50-Euro-Schein: Das Oligopol der Gelddrucker
Der neue 50-Euro-Schein ist da. Illegale Drucker sollen es dank ihm
schwerer haben. Wer ihn legal herstellt, hat einen Markt ohne Konkurrenz.
Indiens Kampf gegen Korruption: Gut gedacht, schlecht gemacht
Als er Geldscheine für ungültig erklärte, wollte Indiens Premier Modi
Terrorfinanzierung erschweren. Es trifft aber erst einmal die Armen.
Radikale Bargeldreform in Indien: Banknoten über 1,36 Euro wertlos
Die indische Regierung zwingt das Land auf den Weg zur bargeldlosen
Gesellschaft. Das soll die Schattenwirtschaft eindämmen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.