# taz.de -- Buch über Rassismus in den USA: Im Fleischwolf der Strafverfolgung | |
> Schwarz? Ab in den Knast! Das Buch „The New Jim Crow“ der Juristin | |
> Michelle Alexander hat in den USA eine breite Debatte ausgelöst. | |
Bild: „Bei kaum 5 Prozent der Weltbevölkerung stellen wir fast 25 Prozent al… | |
Jim, die schwarze Krähe, steht in den USA für die lange Periode der | |
Rassentrennung von 1880 bis Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. | |
Mit der Devise „Separate but equal“ hatte der US-amerikanische Süden auf | |
die Niederlage im Bürgerkrieg reagiert und ein diskriminierendes System | |
geschaffen. Die Figur des Jim Crow karikierte den lustigen, leicht | |
beschränkten „Neger“, der mit seiner inferioren gesellschaftlichen Stellung | |
zufrieden war. | |
Gegen dieses rassistische Zerrbild trat die Bürgerrechtsbewegung an, die | |
alle Schranken der Segregation beseitigen wollte. Die juristische | |
Gleichstellung aller US-Amerikaner wurde 1964 durch den Civil Rights Act | |
erreicht. Zu den bemerkenswerten Erfolgen gehört die Wählerregistrierung, | |
die den black vote zu einer ernst zu nehmenden Größe machte, und die | |
Verbesserung der Bildungschancen durch die Affirmative Action. Ob ohne | |
diese Reformen Obama zum ersten schwarzen Präsidenten der USA hätte gewählt | |
werden können, scheint mehr als zweifelhaft. | |
Michelle Alexander hat ihr Buch „The New Jim Crow“ 2010 veröffentlicht, als | |
viele in den USA und vor allem außerhalb der USA glaubten, der Rassismus | |
sei eine Sache der Vergangenheit. Sie lenkte die Aufmerksamkeit auf die | |
vergessene Seite der amerikanischen Gesellschaftsentwicklung, auf die | |
„Masseninhaftierung“, die im Gefolge des „War on Drugs“ entstanden war. | |
Dieser vierzigjährige Krieg hat nach Alexander zu einer neuen, aber | |
übersehenen gesellschaftlichen Realität geführt – einem System | |
rassistischer Kontrolle über den größten Teil der schwarzen Bevölkerung. | |
Mit dem prekären Zugang ungelernter Arbeiter zum Arbeitsmarkt im Zuge der | |
Globalisierung verschränkt sich die Rassen- mit der Klassenfrage. Das | |
System schafft eine wachsende Gruppe von „Kriminellen“, ohne Bildung, ohne | |
Arbeit, ohne Job, die zum Gegenstand öffentlicher Agitation werden. Rufe | |
nach mehr Sicherheit scheinen verständlich. Donald Trumps Rhetorik setzt | |
hier an. | |
## Zwischen Ghetto und Knast | |
Zweifellos ist die US-amerikanische Inhaftierungsrate abhängig von der | |
Politik: Sie ist die (nach den Seychellen) zweithöchste der Welt. „Bei kaum | |
5 % der Weltbevölkerung stellen wir fast 25 % aller Gefängnisinsassen.“ | |
Alexander weist überzeugend den sprunghaften Anstieg der | |
Gefängnispopulation seit den 90er Jahren nach, der eindeutig auf die | |
verstärkte Verfolgung von Drogendelikten und die Etablierung einer | |
Gefängnisindustrie zurückzuführen ist. Mit einem Zahlenfeuerwerk belegt | |
Alexander die ethnische Selektivität der Masseninhaftierung, die junge | |
Männer, aber zunehmend auch Frauen betrifft. | |
Drogendelikte lassen sich am leichtesten verfolgen, da polizeiliche | |
Kontrollen in Gettos viel erfolgreicher durchzuführen sind als in Suburbs. | |
Quantitativer „Erfolg“ zieht Prämien an Ausstattung und Bewaffnung nach | |
sich. Die Gettos werden regelrecht durchkämmt; Zwischenfälle mit tödlichem | |
Ausgang können nicht überraschen. Kommt man erst einmal in den Fleischwolf | |
der Strafverfolgung, wird man als Krimineller stigmatisiert, der vom | |
gesellschaftlichen Prozess ausgeschlossen werden kann (Verlust von | |
Wahlrecht, Führerschein, Lebensmittelmarken, Sozialwohnung etc.). | |
Es entsteht eine Kaste ohne Ausweg, die zwischen Getto und Knast pendelt. | |
Viele verdienen an diesem System; aber die Gesellschaft zahlt einen sehr | |
hohen Preis für eine Gruppe von mindestens zehn Millionen Menschen, die | |
nicht mehr wie zur Zeit von Sklaverei oder Jim Crow als billige | |
Arbeitskräfte gebraucht werden. | |
## Von Affirmative Action profitiert | |
Michelle Alexander kritisiert das Ideal der „Farbenblindheit“, das den | |
rassistischen Charakter der sozialen Kontrolle übersehen lässt. Alexander | |
kämpft gegen die liberale Illusion, der Rassismus sei ein Problem von | |
gestern. Ihr vehementes Plädoyer, die neue Realität eines „rassistischen | |
Kastensystems“ zur Kenntnis zu nehmen, verliert sich gegen Ende des Buchs | |
in immer heftiger vorgetragenen Appellen. Alexander, die nach eigenem | |
Eingeständnis selbst von Affirmative Action profitiert hat, wird | |
offensichtlich geplagt von dem in der schwarzen Mittelschicht verbreiteten | |
schlechten Gewissen, den harten Kern der schwarzen Community verlassen zu | |
haben. | |
Affirmative Action rückt sie in die Nähe des „racial bribe“– einer Art | |
Bestechung, die Radikalisierung verhindern soll. Manchmal gerät Alexanders | |
Argumentation in die Nähe von Verschwörungstheorien. Doch der von ihr | |
angeprangerte Skandal verlangt nach wirklicher theoretischer Anstrengung | |
und radikaler gesellschaftlicher Veränderung: Das historische Erbe von Jim | |
Crow und die mit der „Reagan Revolution“ verknüpfte Ökonomie hat diese ne… | |
Surplusbevölkerung designiert. Drogenpolitik müsste Bestandteil der | |
Gesundheitspolitik werden. Polizeiarbeit sollte nicht an Erfolgsraten von | |
Verhaftungen geknüpft werden. Schwere sollten von leichten Drogendelikten | |
getrennt werden. Wohnen und Arbeiten in den Städten müssten den | |
Armutszirkel durchbrechen. | |
Schon diese kleinen Schritte klingen nach Utopie – erst recht die Vision | |
von einer „Gesellschaft ohne Gefängnisse“, die Angela Davis anvisiert hat. | |
21 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Detlev Claussen | |
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