# taz.de -- Neuer Roman von Frank Schulz: Was sich im Unterholz bewegt | |
> Die Romane um den schluffigen Gelegenheitsdetektiv Onno Viets werden | |
> immer noch unterschätzt. Diesmal: „Onno Viets und der weiße Hirsch“. | |
Bild: Im Wald stößt Onno Viets auf Verdrängtes aus der deutschen Vergangenhe… | |
Am Anfang ist es wie immer bei Frank Schulz ein bisschen nervig. Die Sätze | |
kommen verquast daher, alles wirkt etwas umständlich, ja unbeholfen. Und | |
dann dieses Familienfest mit den vielen Namen: Wie soll man sich da | |
durchfinden? Warum muss diese ausladende Büfett ganze zwei Seiten lang | |
beschrieben werden? Und weshalb, Herrgott noch mal, muss jedes Geräusch | |
eines Rentners, das er mit seinem offensichtlich schlecht sitzenden Gebiss | |
fabriziert, so minutiös nachgezeichnet werden, dass man das Gefühl hat, man | |
stünde ihm direkt gegenüber? | |
Aber irgendwann, da macht Onno Viets einfach mal wieder „Nech?“ Und da | |
fällt es einem wieder ein. Denn dieses Buch, das dritte und angeblich | |
letzte des viel geliebten Hamburger Autors Frank Schulz, das von seiner | |
Figur Onno Viets handelt, ist natürlich wie die anderen auch: „Onno Viets | |
und der weiße Hirsch“ funktioniert ganz genauso wie sein Held. | |
Im ersten Moment denkt man: Warum soll ich diesem Zausel 350 Seiten lang | |
folgen? Und im zweiten Moment hat man sich zum dritten Mal in Onno Viets | |
verliebt, in einen Mann Mitte fünfzig auf Hartz IV, der zu nichts zu | |
gebrauchen, der „quasi in den Weiten der Ebene steckengeblieben ist“, wie | |
Frank Schulz es formuliert – ein Totalversager, ein Nichtsnutz. | |
Ein Mann, der im Bett Leibchen, also abgeschnittene T-Shirts trägt, um | |
unter der Decke nicht zu schwitzen und oben rum, wo man sich nicht zudecken | |
kann, nicht zu frieren. | |
## Sitzen, zuhören, Tischtennis | |
Ein Mann, der nur drei Sachen gut kann: sitzen, zuhören, Tischtennis | |
spielen. Und zwar in Noppensocken. Ein Mann, von dem man nichts hat, wenn | |
man mit ihm befreundet ist. Den man nur um seiner selbst willen lieben | |
kann. | |
Und plötzlich hat man die Zähigkeit des Einstiegs vergessen, das Buch ist | |
zu Ende und man ist vom Donner gerührt, wie Frank Schulz es wieder einmal | |
geschafft hat, ein zutiefst groteskes Buch zu schreiben, das manche | |
ausschließlich brachialhumoristisch oder auch kalauernd nennen würden, das | |
aber dennoch – oder nein – gerade deswegen von ganz großen Themen handelt, | |
von Menschenliebe, von Herzensbildung. Und vor allem vom Krieg, der nie zu | |
Ende gegangen ist, weder für jene, die ihn noch erlebten, noch für deren | |
Kinder – und auch nicht für deren Enkel. Wie das geht? Ganz einfach | |
scheinbar: | |
Onno Viets leidet noch immer unter der posttraumatischen Belastungsstörung, | |
die der aufmerksame Leser der ersten beiden Onno-Bücher noch erinnern wird, | |
von dem der Neueinsteiger ins Universum des Onno Viets aber nichts wissen | |
muss. Diesmal lässt Onno, der sich selbst zum Privatdetektiv ernannt hat, | |
aber nicht zu einem neuen Fall verdonnern. Sondern er zieht sich zu seinen | |
Schwiegereltern zurück, mit denen er sich nicht ohne Grund besser versteht | |
als mit den eigenen Eltern. | |
Diese Schwiegereltern leben nicht nur in einem Dorfidyll, sie leben auch in | |
einem Familienidyll, lieben einander, lieben ihre Töchter, die wiederum sie | |
lieben, „tief und bombenfest verwurzelt“, wie es einmal ganz am Anfang | |
heißt. Vor allem Schwiegervater Henry, ein Amtsförster a. D., der seinen | |
Seelenfrieden nach wie vor am ehesten auf der Jagd findet, ist eine | |
faszinierende Figur – nicht nur für Onno, sondern auch für den Leser. | |
## Arbeitsscheues Gesindel | |
Auf der einen Seite scheut Henry kaum davor zurück, auf alles loszuballern, | |
was sich im Unterholz bewegt, und empfindet großes Vergnügen dabei, erlegte | |
Hirsche „aufzubrechen“, wie der Waidmann zu sagen pflegt. Henry flucht über | |
„arbeitsscheues Gesindel“, hat sich aber aus purer Liebe angewöhnt, „die | |
biographischen Brüche und sonderbaren beruflichen Entscheidungen des | |
Schwiegersohns einfach rückhaltlos gutzuheißen“. Und so, aber das nur | |
nebenbei, ist Frank Schulz’ Buch auch ein total tolles, schillerndes | |
Hohelied auf ein vordergründig blasses, kleinbürgerliches Milieu, bei dem | |
sich kaum ein deutscher Autor die Mühe macht, so genau hinzusehen wie Frank | |
Schulz. | |
Jedenfalls kommt es, wie es kommen muss: Onno wird auch hier, im selbst | |
gewählten Exil, in alte Streitereien und lang Verdrängtes verwickelt, sein | |
Trauma wird gelinde gesagt eher vertieft, als dass es heilen könnte. Da ist | |
zum einen der skurrile Überrest einer Kommune, die einst im Dorf zum | |
Schrecken der meisten Bewohner hauste: eine absurd dicke Katzenliebhaberin, | |
die viel Geld mit esoterischen Wochenendseminaren verdient. | |
Da ist zum anderen ein Familienmitglied der Försterfamilie, das gleich zu | |
Anfang als „Nelkenheini“ eingeführt wird – ein klassisches schwarzes Sch… | |
wie es einem großen amerikanischen Roman entsprungen sein könnte, ein | |
Schaf, das der Familie all die Altlasten vorführt, die sie so gern | |
wegschieben würde. Dieses schwarze Schaf ist überpräsent, es ist der Motor | |
des Buches, und das, obwohl es vor Jahrzehnten Abschied genommen hat und | |
seither mehr oder weniger spurlos verschwunden ist. | |
Aber über diesen Strang der Story darf man eigentlich nicht viel verraten, | |
wenn man nicht den Witz des ganzen Buches ausplaudern will. Nur so viel: | |
Henry hat Schlimmes erlebt während des Zweiten Weltkriegs, und er hat es | |
nie verarbeitet. Fassungslos muss er dabei zusehen, wie ihm das schwarze | |
Schaf, das er übrigens sehr liebt, entgleitet und sich damit der | |
Kontrollverlust wiederholt, den er im Krieg kennenlernen musste. | |
## Schwarzes Schaf der Familie | |
Irgendwann einmal erinnert sich irgendwer an eine Szene, als das schwarze | |
Schaf noch ein Kind ist. Es befragt seine Mutter nach dem Krieg, und die | |
Mutter erzählt von ausgebombten Häusern. Als es anderntags eine Puppenstube | |
sieht, in die man von außen genauso hineinsehen kann wie in Häuser, deren | |
Fassade weggebombt wurde, ruft es erschrocken: „Guck mal, Mami, der Krieg | |
ist doch noch nicht vorbei!“ | |
Es ist das Groteske und die weiche, liebenswerte, harmlose Kontrastfigur | |
Onno Viets, die dieses Buch am Ende umso grauenhafter macht. Es ist, als | |
würde der Schrecken durch den Humor von Schulz erst greifbar. | |
Das ist groß. | |
Und es ist schade, dass es damit, also mit diesem Onno Viets, nun | |
tatsächlich vorbei sein soll. | |
4 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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