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# taz.de -- Warnung vor dem BER II: Berlin ist zu nah am Reaktor gebaut
> Alarm aus dem Öko-Institut in Darmstadt: Die Evakuierungszone rund um den
> Forschungsreaktor in Wannsee ist möglicherweise viel zu gering bemessen.
Bild: Wer wird denn da gleich den GAU an die Wand malen?
Die Vorbereitungen zum Schutz der Bevölkerung bei einem Nuklearunfall im
Berliner Forschungsreaktor BER II reichen nach Einschätzung des
Öko-Instituts in Darmstadt für ein terroristisches Angriffsszenario nicht
aus. Nach Berechnungen des Physikers Christian Küppers müsste die
Evakuierungszone bei radioaktivem Fallout auf einen Radius von 10
Kilometern für Kleinkinder und 8 Kilometer für Erwachsene ausgedehnt
werden. Der derzeitige Katastrophenschutzplan des Landes sieht einen
Radius von 2,5 Kilometern vor. Nach Absicht des Betreibers, des
Helmholtz-Zentrums für Materialien und Energie (HZB), soll der Reaktor noch
bis 2019 in Betrieb sein.
Seine Berechnungen zur „Herausforderung Terrorschutz“ präsentierte Küppers
kürzlich bei einem Fachgespräch der grünen Bundestagsfraktion zur Situation
der Forschungsreaktoren in Deutschland. Der stellvertretende Bereichsleiter
Nukleartechnik und Anlagensicherheit beim Darmstädter Öko-Institut gehört
unter anderem der Strahlenschutzkommission des Bundesumweltministeriums an.
Er hatte schon 1990 am Gutachten für die Berliner Landesatomaufsicht
mitgewirkt, als die Leistung des BER II von 5 auf 10 Megawatt erhöht wurde.
Zum Vergleich: Ein durchschnittliches Atomkraftwerk hat eine Leistung von
4.000 Megawatt.
## Normale Industriehalle
Damals wurde als denkbares Szenario für den „größten anzunehmenden Unfall�…
(GAU) ein Flugzeugabsturz auf das Reaktorgebäude durchgespielt. Heute
kommen Anschläge von Terrorgruppen als Variante dazu. Größtes
Sicherheitsmanko: Der wegen seiner Wasserkühlung als „Schwimmbad-Reaktor“
bezeichnete BER II steht in einer normalen Industriehalle ohne spezielles
Beton-Containment wie bei einem AKW. Küppers: „Es gibt daher nur eine
geringe Sicherheit gegen Einwirkungen von außen.“ Bei Kühlwasserverlust
kann es zur Kernschmelze kommen, und die radioaktiven Spaltstoffe Jod und
Cäsium entweichen in die Umwelt, wo sie sich je nach Wetterlage in
unterschiedlicher Entfernung verbreiten.
Die größte Differenz zwischen den Berechnungen des Öko-Instituts und denen
des Ingenieurbüros Rödder, die der Senat für seine
Katastrophenschutzplanung heranzieht, besteht bei der Abschätzung, wie viel
Radioaktivität freigesetzt wird. Das Öko-Institut erwartet, dass bei einem
Terrorangriff 100 Prozent des radioaktiven Jods und 61 Prozent des Cäsiums
aus dem Reaktorkern freigesetzt werden.
Die Gutachter der 2001 vom HZB beauftragten Ingenieure kalkulieren rechnen
dagegen mit 32 Prozent Jod und 9 Prozent Cäsium, allerdings „basierend auf
einer Temperaturabschätzung von 700 Grad“, wie Küppers anmerkt. „Bei mehr
als 900 Grad Celsius kommen ganz andere Werte zustande.“ Wenn die vollen
Kerosintanks eines eben gestarteten Passagierflugzeugs in Flammen
aufgingen, wäre das der Fall.
Auch nimmt das Öko-Institut keine „Rückhaltung“ radioaktiver Stoffe durch
das Gebäude an, weil alles komplett zerstört ist, während das Ingenieurbüro
eine 50-prozentige Rückhaltung bei Jod und 95 Prozent beim Cäsium
einkalkuliert. „So gelangt nach deren Berechnung nur 0,45 Prozent des
Cäsium ins Freie, nach unseren Berechnungen aber 61 Prozent“, stellt
Küppers die unterschiedlichen Befunde gegenüber. Wer hat recht? In
Tschernobyl und Fukushima seien jedenfalls „wesentlich mehr als 0,45
Prozent Cäsium ins Freie gelangt“. Der Atom-Experte des Öko-Instituts: „W…
halten unsere Annahmen in einem terroristischen Angriffsszenario für
plausibler und realitätsnäher.“
Küppers’ Aussagen werden von Berlins Atomrechtlicher Genehmigungs- und
Aufsichtsbehörde, die bei der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung
angesiedelt ist, angezweifelt. „Nach unserer Kenntnis handelt es sich nicht
um die offizielle Haltung des Ökoinstituts Darmstadt“, sagt Sprecherin
Petra Rohland auf Anfrage der taz. Im vergangenen Jahr habe ihre Behörde,
die auch für die Katastrophenschutzplanung zuständig ist, mit dem
Ökoinstitut Darmstadt „intensive Diskussionen“ zum Thema geführt. „Nach
unserer Wahrnehmung wurde unsere Vorgehensweise als sinnvoll und
wissenschaftlich tragfähig akzeptiert“, so Rohland. Neue Erkenntnisse, wie
jetzt zum Terrorismus, seien an ihr Haus nicht herangetragen worden: „Es
liegen uns daher keine Informationen vor, wie, mit welchen Randbedingungen,
mit welchem Ausbreitungsprogramm und mit welchen Eingangsdaten diese
Ergebnisse ermittelt wurden.“ Man werde diese Informationen aber jetzt in
Darmstadt abfragen.
Alarmiert durch die neuen Zahlen ist die Bürgerinitiative
„Anti-Atom-Bündnis Berlin Potsdam“. Die „eklatante Differenz zwischen der
Basis des offiziellen Katastrophenschutzes für den BER II und den
Berechnungen von Herrn Küppers“ müsse zur Neubewertung der Risiken führen,
erklärte Bündnis-Sprecher Stephan Worseck. „Ein Vervierfachen des Radius
für die Evakuierung wäre derartig einschneidend, dass sich die Gesellschaft
darauf nicht so einfach einstellen kann“, sagte Worseck. Die Grundlagen des
gerade überarbeiteten und kurz vor der Veröffentlichung stehenden
Katastrophenschutzplanes seien „vollkommen falsch“. Den Bund und das Land
als die beiden Eigentümer des Reaktors fordert das Anti-Atom-Bündnis zur
„sofortigen Abschaltung des 43-jährigen Atomreaktors“ auf, weil „die
möglichen radiologischen Folgen für die Berliner und Potsdamer Bevölkerung
nicht hinnehmbar sind“. Wenn die Betreiber sich nicht bewegten, müsse das
Bundesumweltministerium „notwendige Handlungen selbstständig von Amts wegen
nach Atomgesetz einleiten“.
## Potsdam will klagen
Für die Grünen liegt der Abschalttermin 2019 in zu weiter Ferne. „Ob der
Reaktor wirklich noch drei Jahre laufen sollte, scheint uns fraglich“,
erklärten die Bundestagsabgeordneten Sylvia Kotting-Uhl und Lisa Paus der
taz. „Der BER II hat keine robuste Schutzhülle und zeigt nach 43 Jahren
deutliche Zeichen der Überalterung.“ Die Stadt Potsdam erwäge deshalb
„richtigerweise eine Klage, um den Fortbestand der Betriebsgenehmigung zu
kippen“, so die Politikerinnen. Die Evakuierungszone in den
Katastrophenschutzplänen sollte auf 7 bis 10 Kilometer ausgeweitet werden,
außerdem sollten die Brandschutz- und Katastrophenmaßnahmen daraufhin
überprüft werden, ob sie einem Flugzeugabsturz mit Treibstoffbrand
standhalten. Die Grünen wollen „das Thema weiterhin kritisch begleiten und
regelmäßig bei der Regierung nachfragen“.
7 Aug 2016
## AUTOREN
Manfred Ronzheimer
## TAGS
Forschungsreaktor
Wannsee
Radioaktivität
Anti-Atom-Bewegung
Atomkraftwerk
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