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# taz.de -- Das Paris der Dreißigerjahre im Comic: Mord und Intrigen im Bordell
> „Fräulein Rühr-mich-nicht-an“ ist authentisches Sittengemälde und
> differenziertes Frauenporträt zugleich. Sein Humor ist bissig bis
> makaber.
Bild: Und aus der Stille entspringt ein Schrei: Szene aus „Mademoiselle Rühr…
Es ist Sommer 1930 in Paris, die „Goldenen Zwanziger“ sind endgültig vorbei
und die Weltwirtschaftskrise steckt den Menschen noch in den Knochen.
Amüsement ist ein bewährtes Mittel, um den tristen Alltag zu vergessen. Die
hübschen Schwestern Blanche und Agathe arbeiten, wie viele junge
Demoiselles aus einfachen Verhältnissen, als Zimmermädchen und müssen sich
eine karge Dachkammer teilen.
Während Blanche (!) eher brav und vorsichtig ist, treibt es die
lebenshungrige Agathe öfter hinaus in die Guinguettes, die Tanzlokale vor
den Toren von Paris. Nicht ungefährlich für junge Pariserinnen, spät in der
Nacht zurück in die Stadt zu laufen, denn ein Frauenmörder treibt sich
herum, der „Schlächter der Guinguettes“.
Eines Nachts findet Blanche ihre Schwester ermordet auf, und wegen des
Skandals verliert sie auch noch ihren Job. Da die schlampig arbeitende
Polizei den Vorfall schnell als vermeintlichen Selbstmord ad acta legt,
setzt sich Blanche das Ziel, den Mörder selbst zu finden. Ein weiteres
Opfer des „Schlächters“ arbeitete als Prostituierte in einem bekannten
Luxusbordell, dem „Pompadour“. Beim Herumschnüffeln dort wird Blanche von
der Bordellchefin erwischt und auf Probe eingestellt, um Kapital aus ihrer
Jungfräulichkeit zu schlagen. Blanche wird zur „Rühr-mich-nicht-an“, was
auf die Kundschaft – die Hautevolee von Paris – einen besonderen Reiz
ausübt.
Die nun im Berliner Reprodukt Verlag erschienene Gesamtausgabe der vier
Comicalben von „Fräulein Rühr-mich-nicht-an“ lohnt, die Reihe neu zu
entdecken, denn erst in der Gesamtschau offenbart sich der Romancharakter
der Geschichte, die nicht so vorhersehbar ist, wie es zunächst scheint.
Obwohl in einer pittoresken Epoche angesiedelt, wirkt die Welt, die Hubert
und Kerascoët entwerfen, nur auf den ersten Blick nostalgisch-verklärend.
Es beginnt wie ein Krimi, der an Fritz Langs Film „M – Eine Stadt sucht
einen Mörder“ von 1930 oder auch die subtilen Non-Maigret-Romane von
Georges Simenon erinnert, die durch authentisches Zeitkolorit und
differenzierte Frauenporträts bestachen.
## Einfühlung ins Milieu
Ein Sittengemälde von Paris entsteht, das mit bissigem, oft makabrem Humor,
aber auch viel Einfühlungsvermögen das Milieu der Pariser Freudenmädchen
beleuchtet. Im Mikrokosmos Bordell regiert die Gier, und manche
Prostituierte entfaltet ein Talent zu boshaften oder gar mörderischen
Intrigen. So ähnlich könnte es in einem Pariser Bordell um 1930 wirklich
zugegangen sein: Die Bordellbesitzer setzen auf die Lustbefriedigung
mächtiger Männer – im „Pompadour“ sind Kommissare und Polizeipräfekten
Stammkunden, während gelangweilte Reiche makabre Kicks suchen – doch die
Damen haben oft die gewinnträchtigsten Ideen.
Es entspinnt sich auch ein Entwicklungsroman. Die anfangs so scheue Blanche
mausert sich nach kurzer Zeit der Eingewöhnung zur resoluten Domina, die
auch manch missgünstiger Konkurrentin Respekt einflößt – dank der
Unterstützung von „Mademoiselle Jo“, eines Transvestiten, der wie Josephine
Baker aussieht und von den Stadtoberen umgarnt wird. Die Rachegeschichte
spitzt sich zu und Blanche geht förmlich über Leichen, um den Tod ihrer
Schwester zu sühnen. Mit dem Ende von Teil 2 – die Guillotine kommt zum
Einsatz und muss ein besonders hübsches Köpfchen vom Leib trennen – könnte
die Geschichte an ihr Ende gelangt sein. Doch der 3. Teil, betitelt „Der
Märchenprinz“, gibt Blanches Schicksal eine überraschende Wendung, führt
sie auf neue Abwege. Blanche will das „Pompadour“ zwar verlassen, wird als
Star des Hauses aber nicht freigegeben.
Von einem reichen Schönling umworben, glaubt sie nun, der Abhängigkeit
entfliehen zu können. Ist der makellose Antoine wirklich so etwas wie F.
Scott Fitzgeralds „Großer Gatsby“, der bereit ist, alles für seine Gelieb…
zu tun und sie von tief unten in den gesellschaftlichen Olymp zu entführen?
Hier scheint sich die Geschichte dem Herz-Schmerz-Genre anzunähern, doch
ahnt der Leser, dass irgendetwas mit Antoine faul sein muss. Obendrein
taucht plötzlich Blanches Mutter auf, die ihr den nötigen Halt zu geben
verspricht. Wieder trügt der erste Eindruck, ein Charakter mit Licht- und
noch mehr Schattenseiten betritt die Bühne und sorgt für zusätzliches
Konfliktpotenzial.
Der Szenarist dieser meisterhaft konstruierten Geschichte, der 1971
geborene Franzose Hubert alias Hubert Boulard, kann die Erwartungshaltung
der Leser immer wieder unterwandern, durch raffinierte Wendungen
überraschen und durch vielschichtige Charaktere beleben. Der zuvor als
Kolorist arbeitende Hubert erreichte mit diesem Comic, dessen erster Band
2006 in Frankreich erschien, seinen Durchbruch als Autor, aber er sorgte
auch hier für die stimmungsvolle Farbgebung. Mit den ähnlich umfangreichen
Comicepen „Schönheit“ (2013; Zeichnungen: ebenfalls Kerascoët) und „Pet…
(2015; Zeichnungen: Bertrand Gatignol) setzte er seitdem seinen Weg als
besonders kunstvoller, doppelbödiger Erzähler fort.
## Frivol, nicht vulgär
In all diesen grafischen Erzählungen geht es um Hedonismus,
Geschlechterrollen und schönen Schein, der kontrastiert mit der Brutalität
und der Hinterlist, die die dargestellten Figuren in ihrem Verhalten
zueinander offenlegen. Gegenüber den märchenhaften Settings und dem
Parabelcharakter der anderen beiden Hauptwerke Huberts ist „Fräulein
Rühr-mich-nicht-an“ realistischer.
Den eleganten Zeichnungen des französischen Künstlerduos Kerascoët – Marie
Pommepuy und Sébastien Cosset (1978 und 1975 geboren), die sich auf
Illustration, Design und Comics spezialisiert haben – gelingt es kongenial,
das Paris der zwanziger Jahre glaubhaft auferstehen zu lassen, indem sie
Mode und Dekor der Zeit akribisch nachstellen, dabei aber im Strich leicht
und flott bleiben, wie man es aus zeitgenössischen illustrierten Magazinen
kennt. Auf den ersten Blick hübsch und gefällig anzusehen, lauert zwischen
den Bildern ein Abgrund verdorbener menschlicher Gelüste. Durch Kerascoëts
Liebe zum Detail wird den zahlreichen Spitzfindigkeiten des Szenarios auch
zeichnerisch entsprochen.
Trotz des frivolen, manchmal derben Geschehens kippt der Comic nie ins
Vulgäre oder Voyeuristische, er findet die Balance zwischen einer finsteren
Karikatur der Gesellschaft und einem psychologisch nuancierten
Frauenporträt.
26 Jul 2016
## AUTOREN
Ralph Trommer
## TAGS
Französischer Comic
Paris
Prostitution
Krimi
Mode
Comic
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