# taz.de -- Prozess gegen Kindermörder: Bizarre und beängstigende Fantasien | |
> Ein psychiatrisches Gutachten soll Aufschluss über den Geisteszustand von | |
> Silvio S. geben. Der 33-Jährige steht wegen Mordes an den Jungen Elias | |
> und Mohamed vor dem Landgericht Potsdam. | |
Silvio S. stiert vor sich auf die Tischplatte. Er presst seine Hände an den | |
Nacken, an die Ohren, blinzelt, setzt seine Brille ab, reibt sich die | |
Augen, greift zum Taschentuch. S. hat sich innerhalb weniger Monate von | |
einem übergewichtigen in einen hageren Mann mit dünnen Ärmchen verwandelt. | |
Die Haare des 33-Jährigen sind grau geworden. Was selbstverständlich | |
scheint, ist es nicht: Der Mann, der zwei kleine Kinder misshandelte und | |
tötete, durchlebt Qualen, seitdem er am Vormittag des 29. Oktober 2015 an | |
seinem Wohnort verhaftet wurde – erst recht, seitdem ihm vor dem Potsdamer | |
Landgericht der Prozess gemacht wird. | |
Am heutigen Montag wird der psychiatrische Gutachter Matthias Lammel seine | |
Schlüsse aus dem ziehen, was der Angeklagte preisgegeben hat. Auch das, was | |
Ermittler, Freunde und Bekannte im Prozess berichteten, wird in die | |
Bewertung über S.’ Schuldfähigkeit einfließen. Vieles spricht dafür, dass | |
die Hölle im Leben des Silvio S. früh begann. | |
Er ist der Älteste, seine jüngere Schwester soll es leichter gehabt haben. | |
Leichter als ihr Bruder, der nach Zeugenangaben vom Vater tyrannisiert und | |
von der Mutter manipuliert wurde. Es muss ein Klima geherrscht haben, in | |
dem S. keine Persönlichkeit entwickeln, kein Selbstbewusstsein aufbauen, in | |
dem er einfach nicht erwachsen werden konnte. In dem er ein schüchterner, | |
gehänselter Einzelgänger blieb. Seine Noten waren schlecht, mehrfach | |
scheiterte er in Ausbildungen. Schließlich arbeitet S. als Wachschützer – | |
da ist er nachts allein auf sich gestellt, während er vor diversen | |
Firmensitzen patrouilliert. | |
Mit Mädchen hat er keine Erfahrung, er weiß nicht, wie er sich ihnen nähern | |
soll, weder in einer Disco noch in einem Chat. Nur vor Kindern fürchtete S. | |
sich nicht. Mit ihnen kam er klar, gewann schnell ihr Vertrauen. | |
Bedenkenlos wurde er als Betreuer engagiert. Niemand ahnte, was erst vor | |
Gericht bekannt wird: Silvio entwickelte bizarre, auf Kinder gerichtete | |
Sexualfantasien. Manches wirkt nur schräg, etwa die aus Zeitungen akribisch | |
ausgeschnittenen Kinderköpfe. Viele klebten in einem Album, der Rest flog | |
lose in einer vermüllten Kammer herum. Einige sind nur zwei Zentimeter | |
groß, „präzise Kleinarbeit“ nennt das eine Ermittlerin. | |
## „Fesseln, Mund zukleben, knebeln“ | |
Deren Kollegen sicherten tagelang Spuren im versifften Reich von Silvio S., | |
trugen Puppen, Kinderkleidung, SM-Utensilien, einen Teddy mit versteckter | |
Kamera und ein Nachtsichtgerät in die Asservatenkammer, auch | |
Schlaftabletten, Chloroform und Dutzende benutzter Kondome sowie einen | |
Film, auf dem zu sehen ist, wie der Angeklagte Sex mit einer seiner Puppen | |
hat. Die Ermittler stießen auf Zettel, auf denen mit einem rosa Textmarker | |
Wörter wie „Mädchen, Junge, Messer, Kind besoffen machen, fesseln, Mund | |
zukleben, knebeln“ notiert wurden. Die Fantasien von Silvio S. wurden | |
brutaler, sie drängten nach Realisierung. | |
Spätestens am frühen Abend des 8. Juli 2015 war es so weit: Der | |
Wachschützer lockte Elias zu sich ins Auto, verabreichte ihm Schlafmittel, | |
fesselte und missbrauchte den Sechsjährigen aus Potsdam. | |
Das Opfer erstickte – ob geplant oder infolge eines Unfalls, hat der | |
Angeklagte bislang nicht verraten. Nach seiner Festnahme – welche die | |
Mutter von S. initiierte, nachdem sie ihn auf den Fahndungsbildern erkannt | |
und sich Sorgen gemacht hatte, dass ihr Liebling absichtlich gegen einen | |
Baum gefahren sein könnte – schilderte er Mohameds letzte Stunden. Der | |
Vierjährige war seinem Mörder im Berliner Landesamt für Gesundheit und | |
Soziales über den Weg gelaufen. | |
Zu den Todesumständen von Elias schweigt S., obwohl die Beweislage | |
erdrückend ist. Dies demonstriert ihm der Staatsanwalt, indem er seit dem | |
sechsten Verhandlungstag einen Wagen mit diversen Asservaten direkt vor dem | |
Angeklagten postiert. Darunter die Puppe – seine Sexpartnerin –, die Wanne, | |
in der Mohameds Leiche gefunden wurde, und die Halswirbelsäulenschiene, die | |
Elias tragen musste. In Kombination mit überdimensionalen Beschriftungen | |
wirkt es wie ein psychologisches Arrangement. | |
Der Angeklagte soll reden: über den Tod von Elias und über mögliche weitere | |
Opfer. Er kann nur noch gewinnen – etwa, indem er sich psychisch entlastet | |
oder den Gutachter zu der Einschätzung bewegt, dass er an einer so | |
gravierenden Persönlichkeitsstörung leidet, dass er in die forensische | |
Psychiatrie gehört. | |
17 Jul 2016 | |
## AUTOREN | |
Uta Eisenhardt | |
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