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# taz.de -- EMtaz: Die Konferenz von Evian: Finsteres Ende der Belle Époque
> In der Stadt, wo nun das DFB-Team residiert, ging es einst um die Rettung
> deutscher und österreichischer Juden. Das Ergebnis war desaströs.
Bild: In Evian sind die Deutschen willkommen – anders als die jüdischen Flü…
„Dazusitzen, in diesem wunderbaren Saal, zuzuhören, wie die Vertreter von
32 Staaten nacheinander aufstanden und erklärten, wie furchtbar gern sie
eine größere Zahl Flüchtlinge aufnehmen würden und wie schrecklich leid es
ihnen tue, dass sie das leider nicht tuen könnten, war eine erschütternde
Erfahrung. (. . .) Ich hatte Lust, aufzustehen und sie alle anzuschreien:
Wisst ihr denn nicht, dass diese verdammten ‚Zahlen‘ menschliche Wesen
sind, Menschen, die den Rest ihres Lebens in Konzentrationslagern oder auf
der Flucht rund um den Erdball verbringen müssen wie Aussätzige, wenn ihr
sie nicht aufnehmt?“ (Golda Meir, Beobachterin der Konferenz von Evian und
spätere israelische Ministerpräsidentin)
Keiner wollte diese Konferenz veranstalten. Keiner wollte Gastgeber sein.
Keiner auf europäischem Boden war 1938, ein Jahr vor Kriegsausbruch und
inmitten der fatalen Beschwichtigungspolitik, des Appeasement gegen Hitler,
anfangs bereit, auf den Vorschlag des amerikanischen Präsidenten Roosevelt
einzugehen.
Der wollte mitten in Europa ausloten, wo auf der Welt die immer mehr
werdenden deutschen und österreichischen jüdischen Flüchtlinge in Zukunft
sicher unterkommen könnten. Innenpolitisch stark unter Druck von rechten
Hardlinern, machte Roosevelt allerdings bereits im Vorfeld klar, dass die
großen USA weiterhin nicht mehr als 27.000 Juden pro Jahr aufnehmen würden.
Wohin mit den Hunderttausenden, die auf der Flucht waren und denen nur
noch, anders als bis Mitte der 1930er-Jahre, selten politisches Asyl von
anderen Staaten gewährt wurde?
32 Nationen aus der ganzen Welt trafen sich schließlich, nachdem
ausgerechnet die Schweiz mit Genf als Sitz des Völkerbundes abgewunken
hatte, im französischen Belle-Époque-Kurort Evian direkt über dem Genfer
See. Der Rahmen hätte nicht plüschiger und edler sein können: Man tagte vom
6. bis 16. Juli im 1909 zu Ehren des englischen Königs Edward VII.
errichteten Prachtbau Hotel Royal – Turbokonferenzen waren damals noch
nicht angesagt.
150 Zimmer und Suiten, der Dachstuhl extra von Tiroler Zimmerleuten
angefertigt, und Greta Garbo, Marcel Proust und viele weitere Celebrities
waren auch schon da gewesen. King Edward hat das Royal hoch über dem Genfer
See allerdings nie mehr erlebt: er starb kurz vor der Eröffnung, konnte
seine Suite nicht mehr inspizieren.
## Zweite Garde
Roosevelt selbst reiste auch nicht ins Royal, um die von ihm angestoßene
Konferenz zu leiten. Er schickte einen Freund und Vertrauten, den
Schwerindustriellen Myron C. Taylor. Auch die meisten anderen Länder
entsandten daraufhin nicht ihre erste politische Garde, was die Konferenz
schon im Vorfeld als tiefergehängt erschienen ließ. Mussolini sagte „mit
Rücksicht“ auf Hitler ab, letzterer war nicht eingeladen, ebenso Japan
nicht, die Sowjetunion, die Tschechoslowakei und Ungarn. Allerdings nahm
ein Vertreter des Deutschen Reiches, Helmuth Wohlthat (!), als Beobachter
teil.
Rund 40 jüdische Vereinigungen waren bei der Konferenz von Evian dabei,
hatten aber kein Stimmrecht bei Beschlüssen. Einen Nachmittag lang räumte
man ihnen gnädig ein, ihre Sicht der Lage vor einem Unterkomitee zu
schildern. Golda Meir etwa nahm für die „Agence juive“ teil. Geschlossen
konnten die jüdischen Verbände allerdings nicht auftreten – viele von ihnen
waren heillos untereinander zerstritten.
Schon der Einladungstext zur Konferenz zeigt, dass es den Staaten vorrangig
um ihre Interessen und nicht um das Schicksal der Flüchtlinge ging. In ihm
heißt es sinngemäß, dass private Organisationen und nicht der Staat die
Aufnahme von Flüchtlingen bezahlen sollen und dass kein Staat mehr
Flüchtlinge aufnehmen muss, als es seine Gesetze vorsehen.
## Nichts als Sympathiebekundungen
Im Hotel Royal, im prunkvollen Sitzungssaal, gab es dann im Hochsommer 1938
weihevolle Sympathiebekundungen gegenüber den jüdischen Flüchtlingen und
quasi im gleichen Atemzug die Ansage, dass man nicht noch mehr von ihnen
aufnehmen könne. Frankreich vermerkte, dass seine Ressourcen erschöpft
seien – was vor dem Hintergrund, dass die meisten Flüchtlinge durch private
Organisationen unterstützt wurden, schlicht dreist war.
Der britische Delegierte Lord Winterton, ein erklärter Judenfeind, führte
die Überbevölkerung und die große Arbeitslosigkeit in Großbritannien ins
Feld. Palästina, das damals noch britisches Hoheitsgebiet war, hatte man
vorsorglich als Konferenzthema und möglichen Ansiedlungsort von vorneherein
ausgeklammert. Winterton überbrachte schließlich die „frohe Botschaft“,
dass englische Kolonien in Ostafrika ein paar hundert Flüchtlingsfamilien
aufnehmen würden.
Ermutigt von diesen entmutigenden Aussichten, erklärten die anderen
Staaten, dass sie aus ähnlichen Gründen auch nicht wirklich zuständig
seien. Lateinamerikanische Staaten argumentierten aus ihrer
landwirtschaftlichen Prägung heraus, zu der es nicht passen würde,
Intellektuellen und Händlern Asyl zu gewähren. Die Commonwealth-Staaten,
Australien, Neuseeland und Kanada versteckten sich hinter ihrem Mutterland
und wollten, wenn überhaupt, nur angelsächsische Einwanderer aufnehmen. Der
australische Delegierte äußerte sich gleich offen rassistisch: Man habe
bisher kein Rassenproblem und wolle sich auch keines artifiziell
importieren.
Nur die Dominikanische Republik erklärte sich bereit, Flüchtlinge
aufzunehmen, was allerdings ein vergiftetes Angebot war. Die Flüchtlinge
sollten, so stellte es sich der dortige Diktator Trujillo vor, der 1930 mit
Hilfe der USA an die Macht gekommen war, durch Einheiraten die Dominikaner
„aufhellen“. Und sie sollten über 20.000 haitianische Arbeiter, die
Trujillo im Jahr zuvor wegen ihrer schwarzen Hautfarbe hatte umbringen
lassen, ersetzen. Insgesamt ließen sich schließlich 850 Juden in der
Dominikanischen Republik nieder – wofür der Diktator auch noch gut entlohnt
wurde.
## Verkanntes Problem
Die Frage der jüdischen Flüchtlinge wurde in Evian als singuläres Problem
gesehen. Mit Ausnahme Kolumbiens übte kein einziger anderer der 32 Staaten
offen Kritik an Hitler und dessen Terrorregime. Zehn Tage dauerte es, bis
unter diesen negativen Vorzeichen und der geballten Unlust der
Konferenzteilnehmer, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, schließlich eine
Abschlussresolution entstand. Diese war völlig unverbindlich. Man einigte
sich lediglich darauf, die Konferenz regelmäßig zu wiederholen. Und man
hatte die Resolution so hinbekommen, dass sie von den Deutschen nicht als
Angriff verstanden werden konnte.
Außerdem gründeten die Teilnehmer das Intergovernmental Committee on
Political Refugees (IGC). 1933 bereits war das Hochkommissariat für
Flüchtlinge aus Deutschland in Lausanne eingerichtet worden. Paris wollte
weiter gute Beziehungen zu Berlin und weigerte sich, das IGC zu
beherbergen. Schließlich operierte es von London aus.
Der Völkische Beobachter kommentierte mit Häme bereits am 13. Juli die
Konferenz: „Keiner will sie“, hieß es dort, und mit „sie“ waren die Ju…
gemeint. Kritik an dem Treffen kam nur von wenigen Teilnehmern. Die
allermeisten klopften sich wohl auf die Schulter – brav hatte man
vorgeführt, wie engagiert man war, und sich gleichzeitig zu gar nichts
verpflichtet. Im August 1938 kamen alle ganz hochoffiziell wieder in London
zusammen.
Die Presse außerhalb von Nazideutschland schrieb fast nur wohlwollend über
Evian, einzig der Auslandskorrespondent William Shirer vermerkte schon zu
Beginn: „Es ist eine absurde Situation: Sie wollen den Mann beschwichtigen,
der für ihre Probleme verantwortlich ist.“
Norman Bentwich, selbst Konferenzteilnehmer, gab zu Protokoll, dass die
Ergebnisse „dünn und unaufregend wie das Evianer Mineralwasser“ seien. Und
schließlich fiel einem Delegierten auch noch auf, dass Evian rückwärts
gelesen „Naive“ ergibt, das englische Wort für „naiv“. War es 1938 naiv
gewesen, zu glauben, dass die Konferenz Deutschland verurteilt und eine
humanitäre Lösung für die jüdischen Flüchtlinge findet, so ist es auch
heute naiv, zu glauben, dass Staaten gemeinsam im Sinne von Flüchtlingen
entscheiden.
15 Jun 2016
## AUTOREN
Harriet Wolff
## TAGS
Juden
Schwerpunkt Nationalsozialismus
Flüchtlinge
Schwerpunkt Fußball-EM 2024
EMtaz Bericht/Analyse
Genf
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