# taz.de -- Ruhepol: „Du kannst nicht erwarten, da zu sein“ | |
> Evgeny Makarov kam Anfang der 90er als Kind nach Hamburg. Nun ist seine | |
> Arbeit über die russische Datscha beim Lumix-Fotofestival zu sehen | |
Bild: Der Stadt den Rücken kehren: Die russische Datscha hat bis heute alle Kr… | |
HAMBURG taz | Die eine Hälfte des Hauses ist niedergebrannt, aber der | |
dazugehörige Garten ist sehr schön. Die alte Frau, die in ihm werkelt, lädt | |
Evgeny Makarov ein, die Gartenpforte zu öffnen und hereinzukommen. Erzählt, | |
was da vermutlich ein Kurzschluss angerichtet hat, aber dass sie das Haus | |
schon wieder in Stand setzen werde, es brauche nur etwas Zeit. | |
Dass er sichtbar eine Kamera trägt und sie wird fotografieren wollen, stört | |
sie nicht. Im Gegenteil. „Sie hat mir gesagt, ich würde sie an einen | |
Fotografen erinnern, der sie vor Ewigkeiten fotografiert habe: als sie in | |
St. Petersburg Chemielaborantin war“, sagt Makarov. So wie sie sich | |
erinnert, muss es damals ein amerikanischer Fotograf gewesen sein. Aber | |
bevor es nun zum Foto kommen kann, müsse er erstmal Energie tanken. „Sie | |
meinte: ‚Junge, du siehst müde aus.‘ Und ich musste mich unter den Baum | |
legen, wo sie immer liegt und Kraft tankt.“ | |
Entstanden ist dann das Bild einer alten Frau, die auf einem improvisierten | |
Bett unter einem Kirschbaum liegt und nach den Früchten greift. Es ist Teil | |
der Fotoserie „A Dacha State of Mind“, mit der Evgeny Makarov auf dem | |
diesjährigen Lumix-Fotofestival vertreten ist – dem so wichtigen | |
europäischen Festival für Reportagefotografie. Teil der Serie ist auch das | |
Foto eines Mannes, der Strom zu seinem Holzhaus verlegen will, damit der | |
Fernseher läuft, und das eines einsamen Rauchers am Angel- und Badesee, der | |
im aufsteigenden Nebel fast verschwindet. | |
„Die russische Datscha gibt es seit dem 17. Jahrhundert“, sagt Makarov. | |
„Auch wenn sie sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt hat, so hat doch | |
ihr Konzept bis heute alle Krisen, Kriege und gesellschaftlichen | |
Transformationen überstanden und ist bis heute ein Ruhepol des | |
gesellschaftlichen Lebens – und das wird auch so bleiben.“ So wie die Alten | |
im Sommer aus den überfüllten Städten aufs Land flüchten, so finden die | |
Jungen zumindest an den Wochenenden hier Momente der Ruhe. | |
„Auch in den Zeiten der Sowjetunion, als das Leben besonders streng | |
durchnormiert war, hatte man mit der Datscha einen informellen Rückzugsort, | |
in dem andere Regeln galten“, sagt Makarov. Nicht zuletzt war sein | |
Fotoprojekt auch eine Konfrontation mit seiner Geschichte. | |
## „Russland war im Arsch“ | |
Evgeny Makarov wird 1984 in St. Petersburg geboren, kommt 1992 mit seinen | |
Eltern und seinem Bruder nach Hamburg. „1992 war Russland ganz schön am | |
Arsch“, sagt Makarov. Seine Familie gehört zu den so genannten | |
Kontingentflüchtlingen, Menschen mit jüdischen Wurzeln, die nach dem | |
Zerfall der Sowjetunion gemäß vereinbarter Kontingente nach Deutschland | |
kommen – nicht zu verwechseln mit den Russlanddeutschen, die wenig später | |
folgen. Relativ schnell erhalten die Makarovs eine unbefristete | |
Aufenthaltserlaubnis, dann die Staatsbürgerschaft. „Meine Eltern sahen für | |
sich in Russland schlicht keine Perspektive, dann versucht man sein Glück | |
eben woanders“, sagt Makarov. | |
Aber seine Familie bricht keinesfalls radikal mit ihrer einstigen Heimat. | |
Immer wieder reist Makarov zu seinen Großeltern und verbringt ganze Sommer | |
auf deren Datscha. „Da ist ein bestimmter Geruch, das Licht, die Geräusche | |
– du kannst gar nicht erwarten, dass du da bist“, erinnert er sich. | |
In seiner Klasse ist er damals der einzige Ausländer. Kommt er von seinen | |
Sommerausflügen aus der Datscha zurück, kann er seinen Mitschülern vom | |
wilden Leben erzählen. In Russland wird er wiederum über sein Leben im | |
reichen Hamburg ausgefragt. „In Russland war ich der aus Deutschland, in | |
Deutschland der Russe.“ Die Vermutung, dass sowohl sein Switchen zwischen | |
zwei Kulturkreisen als auch das Berichten aus einer jeweils anderen Welt, | |
etwas mit seiner Profession als Fotograf zu tun haben könnte, verbietet | |
sich als zu klischeehaft – aber er spricht er es selbst an: „Du hast nie | |
einen hundertprozentigen Anschluss. Es ist wie beim Fotografien, du bist | |
dabei, aber du bist auch Beobachter.“ | |
Nach dem Abitur will er eigentlich Betriebswirtschaft studieren. „Bei uns | |
zu Hause war es finanziell oft eher schwierig, und ich dachte: Mache etwas, | |
das Geld einbringt, das dir Sicherheit gibt.“ Aber so richtig Lust hat er | |
nicht. „An dem Tag, bevor ich meine Bewerbung bei der zentralen | |
Vergabestelle für die Studienplätze abgeben musste, trieb ich mich auf dem | |
Campus rum und war ein Stück geknickt, weil ich dieses Studium nicht | |
wollte.“ Dann fragt ihn auf einer Infoveranstaltung ein Mann nach Feuer. | |
Zum Glück raucht er, und sie kommen rauchend ins Gespräch. „Ein | |
sympathischer Typ, der mir einen Einblick in die Fächer Soziologie und | |
Politikwissenschaften gegeben hat, und ich bin total begeistert nach Hause | |
gegangen, habe zack bei Soziologie mein Kreuz gemacht“, sagt Makarov. | |
Später wird er sich tatsächlich einmal in eine BWL-Vorlesung setzen: „Ich | |
habe schnell gemerkt, dass das nix für mich gewesen wäre.“ | |
Zum Fotografieren kommt er, als er gegen Ende seines Studiums damit | |
beginnt, Fotos für das Jugendmagazin Freihafen und das Campusmagazin | |
Injektion zu machen. Seine erste, gewissermaßen konzeptionelle Arbeit ist | |
eine Fotostrecke über Hausboote auf Hamburger Gewässern. Er kam immer | |
wieder am Spreehafen vorbei und stellte sich eine klassisch soziologische | |
Frage: Was sind das für Leute, die auf den sehr unterschiedlichen, aber | |
ordentlich aneinander gereihten Booten leben? Kennt man sich untereinander? | |
Ist es womöglich eine geschlossene Szene? „Der erste Hausbootbesitzer, der | |
mich auf sein Boot ließ, hatte Dreadlooks und praktizierte Yoga“, erzählt | |
Makarov. „Später war ich bei einem Ehepaar, da war das Schiffsinnere | |
holzgetäfelt und überall standen Familienfotos herum.“ | |
## „Einfach tolle Menschen“ | |
Später lernt er den Fotografen Dmitrij Leltschuk kennen, der aus | |
Weißrussland stammt und dessen Serie über Gastarbeiter in St. Petersburg | |
ihn sehr beeindruckt. Es sind Porträts von Arbeitern, meist aus Usbekistan | |
und Georgien, die das prosperierende St. Petersburg aufbauen, aber selbst | |
nicht davon profitieren. Langsam formt sich um Makarov ein Netzwerk aus | |
Fotografen und Journalisten; aus Auftraggebern und „einfach tollen | |
Menschen“. | |
Nach seinem Soziologiestudium studiert er an der „Danish School of Media | |
and Journalism“ in Aarhus und im vergangenen Jahr wird er in die | |
Masterklasse von World Press Photo eingeladen, die ihm sein Datscha-Projekt | |
ermöglicht. | |
Für ihn ist es eine Reise zurück in die Sommertage seiner Jugend. Auch | |
seine Eltern haben das Datscha-Leben immer wieder vermisst. „Es war für sie | |
sehr schräg, wenn sie mal am Hamburger Stadtrand in den dort wohlgeordneten | |
Wald gingen, um Beeren und Pilze zu sammeln“, sagt er. Kein Vergleich zu | |
den ausufernden Waldflächen ihrer Heimat. | |
„Einmal fanden sie trotzdem ein verstecktes und lauschiges Plätzchen, so | |
wie sie es kannten und dachten: ‚Jawoll, hier machen wir ein Lagerfeuer!‘“ | |
Gesagt, getan. Aber schon nach fünf Minuten war jemand da, der ihnen | |
unmissverständlich klarmachte, dass so was in Hamburg einfach nicht geht. | |
13 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Frank Keil | |
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