Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- St. Petersburg, privat: Im Osten was Neues
> Designer für die Oberschicht und eine neue Kunstszene: Aus allen Ecken
> Russlands zieht es KünstlerInnen jeglicher Couleur an die Ostsee.
Bild: In St. Petersburg pflegt man die Kultur.
Als uns Alla Skobelewa die Wohnungstür öffnet, kommt uns ein
verführerischer Duft entgegen. Es riecht nach frisch gebackenen Blinis, der
russischen Antwort auf deutsche Pfannkuchen. Fast schüchtern bittet uns die
54-jährige Frau in ihre kleine Neubauwohnung im Stadtteil Kuptschino. Wir,
das sind eine Hand voll deutscher Reisender, die sich ein realistisches
Bild vom russischen Alltag in einer St. Petersburger Trabantensiedlung
jenseits der barocken Prunkbauten im historischen Zentrum machen wollen.
Mit ein paar Brocken Deutsch führt uns Alla durch ihre kleine
3-Zimmer-Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter Galina lebt, und erzählt aus
ihrem Leben. Dass sie an der Medizinischen Fachhochschule studiert habe und
Notfallhelferin sei. Dass sie Schichten schiebe im Krankenwagen, die
Unfallopfer und die akut Erkrankten dort notversorge und dass man im
Russland von heute davon nicht mehr leben könne.
Dass sie einen zweiten Job habe, wie fast alle Russen, um irgendwie
menschenwürdig leben zu können. Und dass sie hin und wieder deutsche
Touristen bekocht, damit sie ihr Deutsch nicht vergisst und die
Haushaltskasse aufbessert.
In der City übersteigt die Monatsmiete eines sanierten Apartments das
Jahresgehalt von Alla. Die 5-Millionen-Einwohner-Metropole setzt Maßstäbe.
Neben allen großen internationalen Namen der Haute Couture haben sich auch
russische Designer mit edlen Modeboutiquen etabliert. Ihre Preise sind
beachtlich. Stolze 4.000 Euro verlangt Modeschöpfer Ianis Chamalidy für ein
schickes Jäckchen in seiner Flagman Boutique. Und bekommt sie.
## Der Designer des Jahres
Als einheimischer Nachwuchsdesigner hat der studierte Kunstmaler mit
Einführung der Marktwirtschaft die Gunst der Stunde ergriffen und sich hart
durchgebissen. „Ich besaß keinen einzigen Rubel, dafür aber jede Menge
Ideen“, erinnert sich der eher introvertierte Ianis. „Und den eisernen
Willen, es zu schaffen im neuen Russland, mir in der Welt der Mode einen
Namen zu machen.“ Dies ist ihm gelungen. Er wurde mehrfach zum Designer des
Jahres gekürt, hat das russische Team für die Olympischen Winterspiele in
Salt Lake City ausgestattet. Chamalidy-Kollektionen laufen auf Fashionshows
von Mailand bis Tokio, und seine Boutique am Bolschoi-Prospekt hat Eleganz
und das „gewisse Etwas“.
Wie auch die Kleider, Röcke und Jacken für die russische Frau von heute.
„Die stammt aus der neureichen Oberschicht – oder kennt dort jemanden sehr
gut – und ist auffallend attraktiv. Oder hat es selbst zu Geld gebracht,
was aber eher selten der Fall ist“, konstatiert der Designer. In Russland
herrsche das Patriarchat, der Mann habe nach wie vor die Hosen an.
Anders in der Kunst- und Kulturlandschaft. Neben St. Petersburgs
weltberühmten Galerien und Museen, allen voran die Ermitage, etabliert sich
gerade eine kreative Szene. Aus allen Ecken des Riesenreiches zieht es
Künstlerinnen und Künstler jeglicher Couleur an die Ostsee. Zwar
orientieren sich die russischen Kreativen auch an Westeuropa, doch schauen
umgekehrt ihre westlichen Kollegen kaum gen Osten.
## Die renommierte Erarta schielt auf die Jungen
Der künstlerisch durchaus beachtete Maler Alexander Kosenkow kommt aus dem
fernen Sibirien, aus Nowosibirsk hat es ihn zum „Tor nach Europa“ gezogen.
Dort angekommen, verkaufte der Expressionist einen ganzen Schwung Bilder an
einen geschäftstüchtigen Kunsthändler, „um seine vielen Rechnungen
begleichen zu können“. Wenig später musste Alexander feststellen, dass
ebendieser Galerist das Zehnfache des Preises für seine Werke verlangte.
„Ich bin halt Maler und kein Geschäftsmann“, resümiert der sympathische
Mann in seinem braunen Retro-Pullover. „Diesen verrückten Kunstmarkt habe
ich nie verstanden. Eine fremde Welt für mich.“
Die Anerkennung als Ausnahmekünstler ist ihm jedoch gewiss. Sogar die
renommierte Erarta präsentiert seine politischen geprägten Ölgemälde und
Kollagen. Dieses größte private Museum für zeitgenössische Kunst in
Russland hat im Jahre 2010 seine Pforten geöffnet. Neben dem Museum mit
seinen über 2.000 Exponaten von mehr als 150 russischen Künstlern betreibt
die Erarta-Gründerin, Kuratorin und Geschäftsfrau Marina Warwarina auch
Erarta-Galerien in New York, London, Zürich und seit kurzem auch in
Hongkong.
Mit über 300 Museums-Events jährlich und einer starken Präsenz bei Facebook
und Co. will die Kunstsammlerin Warwarina die Nachwendegeneration
ansprechen. Ihnen Augen und Herzen öffnen für die russische Kunst der
Nachkriegszeit. Die Idee funktioniert, das Haus wird von einem jungen
Publikum frequentiert. Alexander Kosenkow freut das, hofft er doch auf ein
bisschen persönlichen Wohlstand für seine Zukunft.
Den Traum hat Alla Skobelewa längst ausgeträumt. Im nächsten Jahr, mit 55,
wird sie in Rente gehen. Dann will sie die teure Neubauwohnung aufgeben und
in ihre kleine Datscha aufs Land ziehen. Ganz in die Nähe von Zarskoje
Selo, dem Zarendorf, wo einst Katharina die Große rauschende Feste feierte.
14 Jun 2014
## AUTOREN
Marc Vorsatz
## TAGS
Kunst
Designer
Reiseland Russland
Russland Heute
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ruhepol: „Du kannst nicht erwarten, da zu sein“
Evgeny Makarov kam Anfang der 90er als Kind nach Hamburg. Nun ist seine
Arbeit über die russische Datscha beim Lumix-Fotofestival zu sehen
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.