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# taz.de -- Lesung und Buch über Fußball: Erstarrt im Zeitkokon
> Der belgische Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint erklärt anlässlich
> der Europameisterschaft noch einmal den mythischen Ballsport.
Bild: „Diese Zeit schützt einen vorm Tod“: Eden Hazard jagt für Belgien d…
Dass großer Fußball Kunst sei, das ist oft gesagt worden. Wenn man aber mit
dem Schriftsteller Jean-Philippe Toussaint gesprochen hat, wird man das
nicht mehr so leichtfertig behaupten. Toussaint, 58, ist Belgier, spricht
Französisch und schreibt in französischer Tradition. Im weiteren Sinne wird
er der Erbengeneration des Nouveau Roman zugerechnet.
Dessen Protagonist Alain Robbe-Grillet war sein Mentor: Big Literatur-Shot,
allerdings nicht in Deutschland. In diesem Moment betritt er die belgische
Botschaft am Berliner Gendarmenmarkt, wo er am Abend eine Lesung hat. Er
trägt Vollglatze und dunkle Kleidung, nicht existentialistisch schwarz,
aber dunkel.
Toussaint hat in die Aufmerksamkeitsperiode der EM ein kurzes Buch über
Fußball platziert, das schlicht „Fußball“ heißt. Es ist ein literarisches
Buch, wie er bei jedem Auftritt klarstellt, in Abgrenzung zu Büchern von
Soziologen oder Journalisten. In allen literarischen Werken gehe es um die
Zeit, sagt er. Um ihr Verrinnen. Um das Ende der Zeit eines Menschen, also
den Tod.
Das ist auch das Grundmotiv von „Fußball“. Toussaint geht davon aus, dass
es eine spezifische Zeit des Fußballs gibt. Diese Zeit schützt einen vorm
Tod. Genauer gesagt: Vor dem Gedanken daran.
## Umkehrung der Lebenssituation
Der Moment, in dem man aus den Katakomben auf die Tribüne tritt (oder das
Spiel am Fernseher beginnt), ist der Übergang in eine andere Zeit. „Wir
sind für die Dauer des Spiels in einen Zeitkokon eingesponnen“, schreibt
er. Die „richtige Zeit“ erscheine „erstarrt und wie betäubt“. Egal, wi…
man ist, alles erscheint plötzlich offen. Man weiß nicht, was passieren
wird, aber es kann gut ausgehen. Jedes Mal aufs Neue.
Der Fußball ist so gesehen in mehrfacher Hinsicht die Umkehrung der
Lebenssituation. Alles fängt erst an. Die Zukunft erscheint offen. Die
Unsicherheit – die man sonst fürchtet und meidet – ist der Kitzel, der die
verrinnende Zeit intensiv macht. Je unsicherer, desto intensiver.
Es sind echte Gefühle, die einen mit der Welt verbinden und sich selbst
spüren lassen: Lachen. Weinen. Liebe. Hass. Ungerechtigkeit. Gerechtigkeit.
Solidarität. Verrat. Und dann ist eben doch alles gefahrenlos. Solange
Fußball gespielt wird, kann einem nichts passieren, aber man trägt auch
keinerlei Verantwortung für das, was am Ende herauskommt. Jedenfalls dann
nicht, wenn es schlecht ausgeht. Damit sind wir beim zweiten Hauptmotiv
Toussaints: der Verknüpfung des Fußballs mit der frühen Lebensphase, der
offenen, der spielerischen.
## Kein Ende abzusehen
„Es ist mit der Kindheit verbunden, nicht verantwortlich zu sein, das ist
die Situation des Kindes“, sagt er im Gespräch. „Und es gibt natürlich ein
Wohlbefinden durch Verantwortungslosigkeit.“ Eine EM und WM ist die
radikale Dominanz der Zeit des Fußballs – und die möglichst vollständige
Absenz der wirklichen Zeit. Man kann einen ganzen Monat lang jenseits des
Todes, der sich verringernden eigenen Möglichkeiten und des ganzen Scheiß
leben. Von Spiel zu Spiel. Nichts sonst stört, nichts sonst zählt. Nur
Dinge wie: Wird Schweinsteiger doch noch einmal spielen?
Zu jedem Turnierbeginn scheint es, als sei kein Ende abzusehen. Wie
Sommerferien als Kind. Und wenn diese EM dann doch vorbei ist? Dann kommt
irgendwann die nächste WM. Und es geht wieder ganz von vorne los. Die WM
2002 über war Toussaint komplett im Veranstalterland Japan. Dort hat er
erlebt, wonach er strebt: „Idealer Fußball“, wie er das nennt. „Da habe …
in der Realität durch den Fußball diesen Traum gelebt als etwas, das in der
Realität stattgefunden hat.“
Als Kind, davon handelt sein Buch, interessieren einen die Spieler, das
Spiel, die Trikots, die Farben. So hält er es auch heute, um sein Ideal zu
schützen. Schon die Trainer sind für ihn uninteressant. „Über Trainer
spreche ich gar nicht. Als Kind wusste ich gar nicht, dass es Trainer gibt.
Das Kind schaut nur den idealen Fußball. Und den versuche ich
wiederzufinden, mit dem Blick des Kindes.“ Was ist mit der Verantwortung
des Intellektuellen? „Ich bin nur für die Verantwortung des Schriftstellers
zuständig. Ich bin auch Staatsbürger, und da habe ich eine Meinung über all
das: Geld, Gewalt, Betrug. Aber als Schriftsteller ist mir das schnuppe.“
## Fußball ist kein Museum
Später, bei seiner Lesung, relativiert er das. Er habe dann doch ein
Interview mit Le Soir gemacht, der führenden französischsprachigen Zeitung
Belgiens, worin er sich zur Welt außerhalb des idealen Fußballs geäußert
habe. Nämlich zur terroristischen Bedrohung der EM. „Die Feder kann nicht
mit der Kalaschnikow konkurrieren“, sagt er, „aber die Antwort des
Künstlers auf Terror muss sein: weitermachen.“ Er vergleicht seine
Möglichkeiten, Wirkung zu erzielen, mit der eines Glühwürmchens. Auch wenn
es in einer Welt leuchtet, in der es zu viel Licht und zu viel Lärm gibt,
so könnten manche das kleine Glühwürmchen vielleicht doch erkennen. Das
bringt ihm in der belgischen Botschaft den größten Beifall des Abends.
Es gibt einen Leerraum in Toussaints Konzept – der besteht darin, dass er
sich als Künstler eben doch in einer Art Versuchsanordnung befindet. Auf
die Frage, ob er denn ein echter Fan von Team Belgien sei, antwortet er:
„Ja, bin ich, aber es ist zugleich ironisch, ich tue, als ob, ich reagiere
wie ein Kind, aber ich bin kein Kind, und das weiß ich.“
„Sobald des Ergebnis bekannt ist, verliert jedes Fußballspiel sofort all
seinen Reiz“, schreibt Toussaint. Das ist der Schlüsselsatz seines Buches.
Klingt banal, ist aber monumental. Fußball ist kein Museum, keine
Ausstellung, kein Popalbum, kein Bild, kein Buch. Ein Fußballspiel kann der
expressive Ausdruck von Schaffenskraft sein. Eines Trainers wie Josep
Guardiola oder Joachim Löw. Eines Teams wie Barcelona, eines Spielers wie
Günter Netzer. Aber im Gegensatz zu Kunst kann es die Zeit nicht
überwinden. Als Ganzes ist es nichts ohne die Gegenwart, denn nur in der im
idealen Fußball gelebten Zeit entfaltet er seine Magie.
Der mit und im Fußball Lebende hat ein Verfahren entwickelt, in dem er das
Spiel in einzelne Bilder, Anekdoten, Zitate aufspaltet, um durch deren
Aufrufen die alten Träume und Gefühle zurückzuholen. Netzer aus der Tiefe
des Raumes. Klaus Fischers Fallrückzieher. Klinsmann gegen Holland! Doch
das ist nur eine Substitution, ein reproduzierbarer Tagtraum. Es braucht
die verrinnende Zeit eines Fußballspiels, damit die wirkliche Zeit stehen
bleibt und das Leben maximal spürbar wird.
15 Jun 2016
## AUTOREN
Peter Unfried
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