# taz.de -- Notfallambulanzen: Die Tote muss warten | |
> In Schleswig-Holstein gibt es Ärzte, die auch am Wochenende und nachts zu | |
> den Patienten nach Hause kommen. Einen von ihnen haben wir begleitet. | |
Bild: 40 Minuten auf der Straße, zehn Minuten beim Menschen: Ralf-Günter Wege… | |
SCHLESWIG taz | Die Tote muss warten. Dabei wäre sie eigentlich dran, wenn | |
es streng nach Reihenfolge ginge. Aber schon wieder klingelt das Telefon. | |
Ralf-Günter Wegers runzelt die Stirn unter dem braunen Hut, zieht die | |
rot-schwarze Kladde aus der Tasche und notiert die Adresse: „Kann sein, | |
dass es ein Notfall ist. Das geht vor.“ | |
Es ist ein strahlender Sonntagvormittag, bestes Wetter für eine | |
Spazierfahrt in Wegers rotem Sportwagen. Der ist schon über zwei Jahrzehnte | |
alt, ein Liebhaberstück, aber er beschleunigt tapfer, und so fliegt die | |
Landstraße vorbei. Aus den Feldern sprießt lichtes Grün, der Himmel ist | |
blau, in der Ferne ist als dünnes helles Band die Schlei zu sehen. „Mist!“, | |
flucht Weger. „Ich hätte doch das Navi einstellen sollen.“ | |
## Im fahrenden Bereitschaftsdienst | |
Eigentlich kennt er sich gut aus in seinem Bezirk: Der 53-Jährige mit | |
eigener Allgemeinarztpraxis in Schleswig ist nicht nur häufig im fahrenden | |
Bereitschaftsdienst unterwegs, in seiner Freizeit tourt er zudem gerne mit | |
dem Rennrad über die sanften Hügel der Angeliter Landschaft. Aber die | |
Straße, in der sein Notfall wohnt, findet sich nicht so leicht. In der | |
Kladde stehen noch weitere Adressen, die Wegers aufsuchen soll – auch die | |
der Toten. | |
Deutschlands Gesundheitssystem steht im weltweiten Vergleich weit oben. | |
Aber es gibt Probleme: Lücken, die heute noch klein sind, aber in | |
absehbarer Zeit größer werden, wenn auf immer mehr Alte und Kranke immer | |
weniger medizinisches Personal kommt. So ein Engpass ist heute schon in den | |
Notfallambulanzen zu erleben, die es an allen Krankenhäusern gibt: | |
Eigentlich sollten dorthin nur die Schwerkranken kommen, die Unfallopfer | |
und die mit dem Lebensbedrohlichen, mit Herzinfarkt oder Schlaganfall. Aber | |
immer öfter sitzen dort eben auch Patienten, die eigentlich zu ihrem | |
Hausarzt gehen könnten. | |
Doch wohin, wenn die Praxen geschlossen sind, in der Nacht oder am Sonntag? | |
Ganz einfach, sagt Ralf-Günter Wegers: „Dafür gibt es den ärztlichen | |
Bereitschaftsdienst.“ Den stemmt seit vielen Jahren die Kassenärztliche | |
Vereinigung. Das Angebot steht auf zwei Säulen: Einerseits sind das die | |
sogenannten Anlaufpraxen, in Schleswig-Holstein meist direkt in oder | |
zumindest nahe den Krankenhäusern untergebracht. Sie sind rund um die Uhr | |
geöffnet. Zum anderen gibt es eine Fahrbereitschaft, die alle in Anspruch | |
nehmen können, die es nicht selbst in die Praxis schaffen. Allerdings, so | |
Wegers: „Es muss schon ein ärztlicher Notfall sein.“ | |
So wie bei seinem ersten Patienten an diesem Morgen. Der Mann lebt in einem | |
Wohnheim für Menschen mit Behinderung, das in einem alten Bauernhof | |
untergebracht ist. Weil er nach einer Operation über Schmerzen klagte, | |
wandten sich seine Betreuer an den Fahrdienst. Wegers stoppt in der | |
Einfahrt, greift nach seiner schweren schwarzen Tasche, eilt ins Haus. Nur | |
wenige Minuten dauert die Untersuchung, ebenso lange dann das Ausfüllen | |
eines halben Dutzends Formulare. | |
## Das Büro in der Tasche | |
In seiner Tasche hat Wegers auch ein kleines mobiles Büro mit Lesegerät für | |
die Versichertenkarte, aber auch einem Etikettendrucker, damit er die | |
Patientendaten nicht mehrfach schreiben muss. „Vierzig Minuten auf der | |
Straße, zehn Minuten Formulare, zehn Minuten beim Menschen“, sagt der | |
Allgemeinmediziner – „eigentlich Wahnsinn.“ Die „Ressource Arzt“ werde | |
nicht eben pfleglich behandelt, aber eine bessere Idee, wie die Lücken der | |
Versorgung auf dem Land zu schließen sind, hat er selbst auch noch nicht | |
gehabt. | |
Aktuell setzt sich die Kieler Landesregierung im Bundesrat dafür ein, die | |
Anlaufpraxen zu sogenannten Portalpraxen umzubauen, die noch enger mit den | |
Krankenhäusern verzahnt sind. Dort sollen dann noch mehr Kranke in die | |
Obhut der weniger überlasteten Kassenärzte übergehen. Unsinn, findet | |
Wegers: „Dafür braucht man ja noch mehr Ärzte. Wo sollen die bitte | |
herkommen?“ | |
Als Notdienstbeauftragter für den Bezirk Schleswig weiß er, wie schwierig | |
es schon jetzt ist, Freiwillige für die Nacht- und Feiertagsschichten zu | |
finden. Im Prinzip stehen 25 Kilometer rund um eine Anlaufpraxis – so groß | |
ist der Bezirk – rund 90 Ärztinnen und Ärzte zur Verfügung, die | |
verpflichtet wären, einen Teil der ungeliebten Dienste zu übernehmen. Aber | |
einige, vor allem jüngere Ärzte, stammen nicht aus der Region – und sie | |
wohnen auch nicht hier. Da ist es schwierig, am Sonntag ab 8 Uhr und die | |
ganze Nacht hindurch bereitzustehen. Altgediente Fachärzte wiederum rümpfen | |
schon beim Gedanken an Hausbesuche die Nase. „Da könnte ich ebenso gut eine | |
geladene Schrottflinte losschicken“, sagt Wegers. So bleibt nur ein kleiner | |
Kreis übrig. | |
Dabei können die Ärzte mit den Sonderdiensten ganz gut dazuverdienen: 50 | |
Euro gibt es pro Stunde, dazu kommen Wegegeld, Zuschläge für Nachtstunden | |
und die Honorare für jeden einzelnen Fall. „Das lohnt sich durchaus“, sagt | |
Wegers. | |
Die Kranken rufen nicht direkt beim fahrenden Arzt an, sondern landen in | |
einer Telefonzentrale, in der speziell ausgebildetes Personal die Anfragen | |
sortiert. Erneut klingelt Wegers Telefon, seine Liste wird noch länger – | |
wieder muss die Tote warten. Der nächste Weg führt wieder in eine | |
Einrichtung für Menschen mit Behinderung: Ein Bewohner hustet und bekommt | |
schlecht Luft, die Betreuerin hält ihm während der Untersuchung tröstend | |
die Hand. „Bronchitis“, stellt Wegers fest und verschreibt ein Medikament. | |
Dann geht es wieder an den Papierkram. | |
Nach mehreren Heimen stoppt Wegers vor einem Privathaus. Die Bewohnerin | |
kommt ihm schon an der Tür entgegen. Die 79-Jährige hat lange gezögert, bis | |
sie den Arzt gerufen hat, schon seit Wochen tun ihr die Beine weh. Mühsam | |
schiebt sie den Rollator ins Wohnzimmer und beißt die Zähne zusammen, | |
während der Arzt das geschwollene Bein abtastet. „Ich habe Angst vor einer | |
Thrombose“, gesteht sie. Zu Recht, meint Wegers. „Das sollte im Krankenhaus | |
abgeklärt werden.“ Sie könne doch mit dem Taxi fahren, findet die Frau. | |
„Dann sitzt du da ewig im Wartezimmer“, widerspricht ihre Tochter, die | |
gerade hinzukommt. „Wir fahren mit dem Krankenwagen, dafür gibt es den ja.“ | |
Wegers schreibt die Überweisung und fordert den Transport an. | |
„Unnötiger Aufwand, unnötige Kosten“, sagt er später. Die Fahrbereitscha… | |
der Kassenärzte diene ja gerade dazu, die Kliniken zu entlasten – personell | |
wie finanziell. Im Großen und Ganzen aber funktioniere das System, sagt er. | |
Auch an diesem Tag sei noch kein unnötiger Fall dabei gewesen. „Wenn jemand | |
allein zu Haus ist und sich schlecht fühlt, ist es ja nur richtig, Hilfe zu | |
rufen.“ | |
## Einsamer Tod im Heimbett | |
Manchmal aber kommt jede Hilfe zu spät: Zwischen zwei weiteren Besuchen | |
kommt endlich die immer wieder aufgeschobene Tote dran. An ihrer Zimmertür | |
im Pflegeheim klebt neben dem Namensschild das Bild eines bunten Kakadus. | |
Drinnen stehen Couch, Sessel und Tischchen, ein Fernseher auf der Kommode, | |
vor dem Fenster zwitschern Amseln im Garten. Die Frau liegt auf dem Rücken | |
im Bett, der Mund ohne ihr Gebiss eingefallen, das Gesicht gelblich | |
verfärbt. | |
Gemeinsam mit einer Pflegerin dreht der Arzt den schlanken Leib herum – | |
„mal sehen, ob ein Messer im Rücken steckt“, scherzt Wegers. Die | |
Untersuchung dauert nicht lange, die Frau war 99 Jahre alt. Ein paar Tage | |
zuvor hatte sie einen Schlaganfall, war „die letzten Tage kaum mehr | |
ansprechbar“, sagt die Pflegerin. Es war ein einsamer Tod im Heimbett, aber | |
offenbar ein friedlicher. Die Pflegerin muss jetzt die Verwandten der | |
Verstorbenen benachrichtigen, während Wegers sich wieder auf den Weg macht. | |
Ein Dutzend Fälle verarztet er an diesem Tag, der kurz vor Mitternacht mit | |
einer telefonischen Beratung endet. Ein Blick in ein Dutzend Schicksale – | |
was weiter mit den Kranken geschieht, erfährt der Notdienstarzt | |
normalerweise nicht. | |
13 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Esther Geißlinger | |
## TAGS | |
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Schleswig-Holstein | |
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