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# taz.de -- Montréal, der frankophone Treffpunkt: Ein Boulevard der Vielfalt
> Küche, Kunst und Klamauk. Die neuen Rebellen beleben die Stadt mit ihrer
> Selbstverwirklichung. Auch die Älteren schätzen das zunehmend.
Bild: Auf dem Mont Royal hat man einen Superausblick auf die Innenstadt von Mon…
Prickelnder Schaum auf den Lippen. Eine Frische, die langsam dem Gaumen
entlang ein von leichter Bitterkeit begleitetes Hochgefühl verbreitet.
Xavier Caféïne schnalzt mit der Zunge und seufzt wohlig. Der erste Schluck
Bier. „La Rebelle Québecoise“, gebraut in Montréal. Seine Stammmarke. „…
ernst zu nehmende Stadt hat immer ihr eigenes, verdammt gutes Bier! Deshalb
verstehe ich nicht, dass bereits in Ontario die Leute fast nichts über uns
wissen. Filmstars, Sänger, Musiker, Literaten – so gut wie unbekannt!“
Das wurmt ihn, denn Xavier ist Musiker. Schwarze Mähne, schwarzes Jackett,
schwarze Hose, früher Punkrocker, spielt er heute Indie-Rock. Er nimmt noch
einen Schluck und lehnt sich zurück. Der Soundcheck im Café Campus ist
beendet, die Bühne ist für das Konzert „angerichtet“, wie er es nennt.
Am Abend dann zucken Scheinwerfer, über das dicht gedrängte Publikum fließt
rotes Licht. Sein erster Song scheint eine Hymne zu sein: „Montréal“. Die
Leute jubeln, tanzen, schwingen die Arme. „Die Stadt, sie wird mir meine
Verrücktheit zurückgeben!“, singt er. Ja, verrückt sein, verrückt danach …
leben, zu lieben, zu brennen wie Wunderkerzen, an beiden Enden
gleichzeitig! Die linke Hand umfasst das Mikrofon, ein extra Lichtkegel
strahlt sie an. Auf den Fingerrücken die eintätowierte Buchstabenkette
l-o-v-e.
Für den 40-Jährigen ist Liebe, ist lieben als Übertretung substanziell. Als
Abgrenzung gegenüber denjenigen, die übervorsichtig in jeglicher Ordnung
verharren. In der Politik, im Büro, im Bett, bereits beim Küssen. Seine
Musik soll Leidenschaften entfachen, mit betäubenden Bässen und
kreischenden Elektrosounds.
Frankokanadische Musiker haben es nicht leicht in Kanada, denn in der
Region Québec leben so wenige Menschen, dass es sich für Bands kaum lohnt,
über die heimatlichen Landen zu touren. Und in Kanada selbst ist die
Konkurrenz zur anglofonen Musik groß. Gegen die versucht Xavier in
québecoiser Muttersprache anzusingen: Zivilisiertheit ja, aber auch Kritik
daran; Bürgerlichkeit auch, doch ebenso der Versuch, ihr zu entkommen.
Tradition nur mit dem Ansinnen, sie zugunsten von etwas Neuem aufzulösen.
Der Mann hat alles über den „Summer of Love“ von 1968 gesammelt, Dokus,
Konzertmitschnitte, Platten. Inspirationen holt sich er sich Jahr für Jahr
auf dem „Woodstock en Beauce Festival“, das zwischen Montréal und Québec
auf dem Gelände des Saint-Éphrem-de-Beauce stattfindet: „Dort haben sogar
Tausende meinen Montréal-Song mitgesungen“, sagt selbstbewusst ein Mann,
der einst auf Friedhöfen geprobt hat, um seine anfängliche Angst vor
Auftritten zu überwinden.
Sich erinnern, das möchte auch sein Freund Jean-Marc Vallée, der in
Montréal geborene Regisseur, bekannt durch „C.R.A.Z.Y. – Verrücktes Leben…
Der stemmt gerade einen Film über Janis Joplin. Amy Adams ist Janis Joplin,
die Kleindarsteller kommen aus Montréal. Vallée, seit seiner Jugend
fasziniert von der kanadischen Rockikone, spürt ein neues Interesse an dem
Lebensgefühl von damals: „Manche Stars sind wie Sterne, scheinen noch,
obwohl sie aufgehört haben zu leben. Die neue Generation lebt nicht die
Absage an die Gesellschaft, sondern setzt ihr stärker als zuvor
Individualität entgegen.“ Wie einst Jack Kerouac.
## Ein Comeback für Jack Kerouac
Der amerikanische Schriftsteller erlebt gerade ein Comeback in der
Millionenmetropole, denn er sprach, aufgrund seiner frankokanadischen
Vorfahren, den gleichen Dialekt. Im nächsten Jahr kommt „On the Road“ auf
die Bühne, auf Québecois. Im Café Campus. Die kleine Kunsthalle ist das
kulturelle Drehkreuz der Stadt, direkt am Boulevard Saint Laurent.
Künstler, Designer, IT-Freaks, Studenten, Manager, hier kommen Leute
zusammen, die sich verwirklichen wollen. „Werde, was du bist“ , fügt Xavier
hinzu. „Oder was du zumindest zu sein glaubst!“
Der Boulevard Saint Laurent, Linie zwischen den frankofonen und anglofonen
Vierteln, war schon immer der Treffpunkt in Montréal. Einst Einfallstor für
Generationen von Einwanderern, die sich hier ihr neues Leben aufbauten, ist
der Boulevard heute noch ein Phänomen an Vielfalt. In den viktorianischen
Bauten befinden sich jüdische Bäckereien, libanesische, indische,
mexikanische Trödelmärkte. Schulter an Schulter: Modeboutiquen,
Designerläden, Biomärkte, Feinkostgeschäfte, Kunstgalerien, Buchläden.
Türkisfarbene Girlanden an roten Backsteinmauern, ein Blumengeschäft, das
„Pourqoi pas“ heißt, die Fleischerei Schwartz’s, wo die Leute Schlange
stehen, die Friterie Patati Patata mit einem leckeren Mischmasch an
Fastfood. Den besten Überblick über die elf Kilometer lange Promenade, von
der Sommerville Avenue bis zur Rue de la Commune, hat man vom 228 Meter
hohen Hausberg Mont Royal.
## Bunte Wandmalereien
Wer den Boulevard entlangläuft, verlangsamt den Schritt. Auffällig sind die
Häuserwände, meterlang, meterhoch bemalt: nachdenkliche Mädchengesichter in
der Präzision eines Fotos; grinsende Alte, die Skat spielen; eine
schmuckbehängte Zombiedame, die mit Goldringen jongliert; ein vieräugiger
Typ mit Handy; grüne Fische unter rostfarbenem Dinosaurierskelett. So
abstoßend, dass man immer wieder hinschaut.
„Das ist unser Konzept!“, sagt André Bathalon, Chef von Mural, einem
Verein, der die Wandmalereien koordiniert: „Unser aller Blick hat sich doch
längst an den Häuserfassaden abgearbeitet, im Alltag nehmen wir vieles
nicht mehr wahr. Wir wollen provozieren!“ André, ein Mann um die 30, mit
streng nach hinten gekämmten, glatten Strähnen und rötlichem Rauschebart,
schart Künstler um sich, organisiert das Einverständnis der Stadtväter für
die Bemalung freier Wände und akquiriert Gelder für Malutensilien.
Einmal im Jahr findet das Mural-Festival auf dem Boulevard Saint Laurent
statt, vor allem, um vor den Wandbildern mit Passanten ins Gespräch zu
kommen. Im vergangenen Jahr kamen 800.000 Besucher. „Ein bisschen Grafitto
kann jeder, wir aber machen überdimensionale Straßenkunst. Unsere
Open-Air-Galerie ist Happyness für Handys. Ich lese im Internet immer
wieder Kommentare wie: ‚Wow, das war wo, ach, in Montréal?‘“
## Treffpunkt der Kreativen
Wie das Café Campus, so ist auch Laika Treffpunkt der Kreativen. Hier gibt
es keine Live-Musik, hier legen einheimische DJs auf. In dem lang
gestreckten Raum, im Retrochic der 60er Jahre, mit Cocktailsesseln und
Bistrotischen, werden Netzwerke geschmiedet und Ideen ausgeheckt. Benannt
ist das Café nach dem russischen Hund Laika, der als Erster ins All flog.
Pläne müssen weit reichen, sagt Xavier, der hier oft nach seinen Konzerten
gen Mitternacht eintrifft. „Man sollte sich bis zum Mond träumen! Verfehlt
man ihn, war man noch immerhin bei den Sternen.“
Er reibt sich nachdenklich den Nacken. Seine Pläne: gegen das Establishment
sein. Macht ist schlecht, und Fleischessen ist Mord. Dazu das Gefühl von
Zukunftsskepsis: „Daher müssen wir mehr zusammenrücken.“ Und – gemeinsam
essen. Wie im Restaurant Robin des Bois (Robin Hood). Die Inhaberin des
Non-Profit-Projekts, Judy Servay, sorgt dafür, dass Gewinne und Trinkgelder
an örtliche wohltätige Einrichtungen gespendet werden. Blumenmuster an den
Wänden, lange, dunkle Holztische, grüne und rote Stuhlbezüge, ein
meterlanger Spiegel, Marmortheke. Robin des Bois ist gut besucht, Richter,
Notärzte, Studenten, Hausfrauen und Exjunkies. Viele Einwanderer auch, die
sich noch fremd fühlen in der Stadt und Leute treffen wollen. Und Leute wie
Xavier Caféïne, Künstler, Musiker.
Auf der Kreidetafel ist das Tagesgericht gekritzelt: Huhn mit Zitronengras,
Schweinerippchen in Bier-Honig-Sauce, Risotto mit Karottensaft und
Waldpilzen. Apfelkuchen und Crêpes mit Ahornsirup. „Die Welt im Kleinen
gerechter zu machen kann gut schmecken!“ Xavier bestellt das Hühnchen.
Es sind nicht nur die Jungen, die Montréal wegen seiner Kreativität und
seines Selbstbewusstsein mögen, es sind auch die Älteren, die dies
zunehmend zu schätzen wissen, wie Schriftstellerin Hélène Dorion. Ihre
Bücher sind preisgekrönte Liebes-, aber auch gesellschaftskritische
Geschichten, die sich gegen den bis heute noch großen Einfluss der
katholischen Kirche richten. Zwar kam es in den 1960er Jahren in Montréal,
wie in der gesamten Region Québec, zur Säkularisierung der Gesellschaft,
doch auch nach der sogenannten stillen Revolution ist ihr Einfluss viel zu
groß, findet Hélène.
## Modeboutique in er Kirche
In Québec-Stadt gibt es bereits mit Signatures québécoises eine
Modeboutique, die sich im Seitenschiff einer Kirche einnistete, mit einer
Bühne für Poetryslam. Das soll nun auch in Montréal entstehen. Für Hélène
ist die Stadt eine besondere Stadt und deshalb so anziehend, weil neben der
dynamisch schöpferischen Seite auch eine melancholische spürbar ist. Hélène
ist zwar ein positiver Mensch, doch Gefühle wie Sehnsucht, Traurigkeit und
Fernweh sind ihre stetigen Begleiter und inspirieren sie zum Schreiben:
„Melancholische Stücke müssen nicht immer traurig sein, sondern sind auch
sinnlich und tiefgründig.“
Wenn die kleine, zerbrechlich wirkende Frau von Schwermut heimgesucht wird,
geht sie in den Zirkus. Die Auswahl ist groß, denn in Montréal gibt es drei
Zirkusse, sogar eine Schule für Gaukler und mit La Tohu eine zentrale
Spielstätte für jeglichen Klamauk.
Kooza, ein Stück vom Cirque du Soleil, ist ihr Favorit: Ein melancholischer
Einzelgänger macht sich auf die Suche nach seinem Platz in der Welt.
Zwischen König, Trickser, Taschendieb und unausstehlichem Touristen erlebt
die sensible Hauptfigur im Harlekinsanzug Höhenflüge und Nervenkitzel und
wird somit aus seiner trostlosen Selbstbezogenheit herauskatapultiert.
„Ohne Zirkus wären so manche meiner Bücher ungeschrieben geblieben“, sagt
Hélène. Und sie bestellt ein „La Rebelle Québecoise“.
1 May 2016
## AUTOREN
Birgit Weidt
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