# taz.de -- Buch zur Geschichte der islamischen Welt: Die Hoffnung stirbt zulet… | |
> Reinhard Schulze hat seine profunde „Geschichte der Islamischen Welt – | |
> Von 1900 bis zur Gegenwart“ neu bearbeitet. | |
Bild: Gebet in einer indonesischen Moschee | |
Dass die islamische Welt mehr ist als Religion plus Terror kann angesichts | |
der blutigen Realitäten des IS-Kalifatsalbtraums und radikalislamischer | |
Anschläge weltweit schon mal aus dem Blick geraten. | |
Über 60 Prozent der muslimischen Weltbevölkerung leben heute jedoch im | |
asiatischen Raum, der die zentralasiatischen Republiken im Einzugsbereich | |
Russlands genauso umfasst wie die Türkei und Iran und der südöstlicherseits | |
bis nach Indonesien reicht. Eine Geschichte dieser gesamten islamischen | |
Welt seit 1900 zu schreiben, ist nicht nur geografisch ein komplexes | |
Unterfangen. | |
Vielmehr muss eine solche Historiografie auch die immensen kolonial- und | |
globalisierungsgeschichtlichen, politischen und ökonomischen | |
Entwicklungsdivergenzen in Rechnung stellen, die in diesen Räumen und | |
Gesellschaften zum Tragen kommen. Kann man angesichts dessen überhaupt von | |
einer islamischen Welt sprechen? Und welche Einheit hält diese Differenzen | |
zusammen? | |
Reinhard Schulzes „Geschichte der Islamischen Welt. Von 1900 bis zur | |
Gegenwart“ sperrt sich gegen jede Komplexitätsreduktion des | |
Untersuchungsgegenstandes. Erstmals 1994 erschienen, handelt es sich bei | |
seiner Arbeit um eine stark überarbeitete, dritte Weiterschreibung, in der | |
die jüngsten Entwicklungen in den Kernländern des Islams, die Revolten des | |
Arabischen Frühlings, genauso eine erste historische Einordnung erfahren | |
wie der Aufstieg ultraislamischer Kampfbünde und transnationalen Terrors. | |
Präziser wäre das Buch als „Geschichte der Islamischen Öffentlichkeit“ | |
betitelt, denn es ist die Entwicklung einer in sich vielfältigen | |
islamischen Öffentlichkeit, die das Einheit stiftende Moment der | |
Untersuchung bildet. Im Kern handelt es sich um eine diskursanalytische | |
Rekonstruktion der Auseinandersetzung dieser Öffentlichkeit mit einer von | |
Westen her kommenden Moderne, damit verbundener Nationalstaatsbegriffe, | |
politischer Ideologien und Gesellschaftsutopien, in die sich die islamische | |
Welt seit dem19. Jahrhundert involviert findet. | |
## Ein Anti-Huntington | |
Programmatisch betrachtet, ist das Buch ein Anti-Samuel-Huntington. Denn | |
die islamische Auseinandersetzung mit der Moderne, wie Schulze sie | |
analysiert, zeugt nicht von einem Clash of civilizations, in dem sich | |
„orientalische“ und „westliche“ Vorstellungswelten und | |
Wirklichkeitskonzepte vermeintlich unvereinbar gegenüberstünden. Vielmehr | |
ist die Öffentlichkeit der islamischen Welt spätestens seit 1900 Teil einer | |
global werdenden Moderne. Und die Diskurse, die sich in dieser | |
Öffentlichkeit entfalten – sie kreisen um die Frage nach dem angemessenen | |
Ort des Islams in Staat und Gesellschaft und reichen von | |
emanzipatorisch-säkular über wertkonservativ-religiös bis hin zu | |
radikalislamisch – bewegen sich damit immer auch im Rahmen dieser Moderne. | |
Auf 700 Seiten entwickelt sich Schulzes Analyse zu einer wissensmäßig | |
voraussetzungsreichen tour de force, die chronologisch fortschreitend | |
Ideen- und Sozialgeschichte mit einem etwas irrsinnig anmutenden | |
geografischen Szenenhopping durch einzelne Länder der islamischen | |
Weltregionen Arabiens, Afrikas und Asiens verknüpft. | |
Inhaltlich ist dies eine Geschichte, die den Aufstieg und Niedergang der | |
islamischen Öffentlichkeit und Moderne im20. Jahrhundert nachzeichnet. Das | |
reicht von der Entfaltung dieser Moderne um 1900 über die Durchsetzung | |
nationalstaatlicher Konzepte, postkoloniale Unabhängigkeitsbestrebungen und | |
Dritte-Welt-Republikanismen, die Entwicklung islamischer Ideologien in den | |
1970er Jahren bis zum Zerfall islamisch geprägter Gesellschaftsutopien und | |
der bürgerlichen Öffentlichkeit seit den späten 80er Jahren. Ein | |
Zerfallsprozess, der in die Kämpfe um eine offene Zivilgesellschaft und | |
politische Teilhabe der Arabischen Revolten genauso mündet wie in den | |
Terror von al-Qaida bis IS. | |
## Fundamentales Scheitern | |
Wie sind die jüngsten Entwicklungen historisch einzuordnen? Beide | |
Phänomene, sowohl die arabischen Revolten als auch der sich islamisch | |
rechtfertigende Terror, erscheinen als zwei Seiten einer Medaille. Sie sind | |
Ausdruck eines fundamentalen Scheiterns politischer, ökonomischer und | |
gesellschaftlicher Integrationsversuche in der arabisch-islamischen Welt. | |
Es ist auch ein Scheitern der politischen Eliten sowie der bürgerlichen | |
Öffentlichkeit. Ihnen gelingt es letztlich nicht, eine tragfähige | |
zivilgesellschaftliche Ordnung zu denken und zu schaffen, in der eine | |
Mehrheit der Bevölkerung ihreHeimat finden könnte oder wollte. | |
Derzeit ist es der militär- sowie der golfstaatendiktatorische Terror von | |
oben, der von diesem Scheitern profitiert. Doch die Hoffnung stirbt | |
zuletzt. Vielleicht wird in den Trümmern der arabischen Proteste ja noch | |
der Funke einer zivilgesellschaftlichen Revolution von unten zünden. | |
25 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Eva Berger | |
## TAGS | |
Politisches Buch | |
Islam | |
Schwerpunkt Rassismus | |
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