# taz.de -- Auf Wandertour in Norwegen: Allein in der Bergwildnis | |
> Einsame Wanderrouten in wilder Naturlandschaft. Wer Natur sucht, bekommt | |
> sie im Nationalpark Rondane in Norwegen beinahe ungeschminkt. | |
Bild: Einsam kann es sein auf dem Fjell im Nationalpark Rondane | |
Ab und zu spritzen mir Tropfen ins Gesicht, von der heftigen Regenflut, die | |
das Zelt förmlich bombardiert. Es steht auf dem am wenigsten durchnässten | |
Platz, trotzdem überwiegt das Wasser gegenüber dem Erdboden. Es sickert | |
schon durch. Notdürftig habe ich ein T-Shirt über meinen Schlafsack | |
gebreitet und versuche, immer schön mittig auf der Isomatte liegen zu | |
bleiben. Wie eine Schiffbrüchige, die, an ein Brett geklammert, auf dem | |
Meer treibt. | |
Gerne zu wandern, ist eine Sache. Ein paar Blasen bedeuten Leiden, lassen | |
sich aber meist mit der schönen Landschaft kompensieren. Abends, nach einem | |
opulenten Essen im Gasthaus, gibt es nichts Besseres, als mit einem | |
wohligen Seufzer ins weiche Kissen zu sinken. Hat man sich ja auch | |
verdient. | |
Abenteurern hingegen reicht dieses Genusswandern nicht. Sie wollen mehr, | |
als nur die Seele baumeln zu lassen. Zu solchen Freaks zähle ich mich zwar | |
nicht, aber abends zum Rauschen eines Wasserfalles einzuschlafen und | |
morgens bei Vogelgezwitscher aufzuwachen – das möchte ich auch erleben. | |
Allein sein mit Berg und Wald, so wie es früher war, wenn Wanderer „ihr | |
Bündel schnürten und der Welt den Rücken kehrten“. Für solche Touren „i… | |
the Wild“ ist, wenn man Europa nicht verlassen möchte, Norwegen die | |
richtige Adresse – genauer gesagt das nördlich von Lillehammer beginnende | |
Rondane. Zwar zählt es mit seiner maximalen Ausdehnung von 50 Kilometern zu | |
den „Zwergen“ unter den skandinavischen Gebirgsarealen. Mit Zug und Bus | |
relativ gut erreichbar, eignet es sich dennoch hervorragend für eine | |
Premiere in Sachen „Zurück zur Natur“. | |
Wenn Greenhörner wie ich zum ersten Mal in ihrem Leben einfach in die | |
Bergwildnis ziehen, mit allem auf dem Rücken, was man so braucht, aber ohne | |
Begleitung und ohne Handyempfang, dann beruhigt einen jedes noch so kleine | |
Zeichen menschlicher Anwesenheit – für mich ist es das mit roter Farbe auf | |
Felsstücke oder Stämme gekleckste „T“. Es strahlt Verlässlichkeit aus: | |
Dieser Weg ist zwar einsam, aber immerhin eine offizielle Wanderroute. | |
## Norwegische Wanderwege | |
Christoph Habert, der unten im Tal zusammen mit der Malerin Cecilie Bjercke | |
ein exklusives Gästehaus führt, hat mich allerdings aufgeklärt. Mit meinem | |
Sicherheitsbedürfnis zähle ich nach hiesigen Maßstäben zu den Weicheiern. | |
„Norweger haben ein anderes Verhältnis zu Wanderwegen als wir Deutsche“, | |
erzählt er. In den lebhaftesten Farben schilderten ihm Nachbarn ihre | |
bevorzugten Wanderstrecken. Also schnürte der Hotelier seine Bergstiefel, | |
um diese Geheimtipps auszuprobieren. | |
Fehlanzeige. Kein einziges Mal fand er diese Wege. „Welche Wege?“, | |
wunderten sich seine Bekannten, als er die Sprache darauf brachte. | |
Inzwischen hat der ehemalige Frankfurter Banker resigniert: „Norwegische | |
Wanderlustige stellen eben einfach ihr Auto ab und gehen los. Sie steigen | |
sicher an den tollsten Stellen auf, da würden wir gar nicht drauf kommen.“ | |
Trotzdem, auch nach dem markierten Anstieg von Rondetunet aus fühle ich | |
mich, umgeben von Wäldern und Höhen, schon mittendrin. Ein Vogel krächzt, | |
der Wind weht leicht. Das kann doch nur gut werden. Die Region ist reich an | |
Bächen und Seen mit sauberem Wasser. Das hilft, denn gerade bei mehrtägigen | |
Touren mit Zelt sowie Kochutensilien liegt das Gewicht des Rucksacks mit 16 | |
bis 18 Kilogramm schnell am Limit: Nie mehr als ein Viertel des | |
Körpergewichts durch die Berge buckeln, sagen die Experten. | |
## Willkommen im Fjell | |
Das Wasser macht es mir aber auch schwer. Besonders nach der | |
Schneeschmelze, die bis in den Sommer hinein dauert, bleibt es leider | |
selten dort, wo es auf der Karte verzeichnet ist. Es verästelt sich zu | |
Rinnsalen oder unterminiert den moorigen Boden. Schwingend federt der Pfad | |
meine Tritte ab, dann schwappt und schlürft braune Suppe um die | |
Wanderstiefel. Hüfthohe Zwergstrauchheiden rechts und links dirigieren mich | |
immer wieder in den Matsch. Sie fühlen sich sichtlich wohl auf dem | |
fruchtbaren Untergrund, ebenso wie die blassgrünen Rentierflechten und | |
vielfältigen Moose, manche von ihnen mit rötlichen zarten Peilsendern als | |
Blüten. | |
Willkommen im Fjell, scheinen die Mücken zu surren. Plötzlich sind sie da, | |
umschwirren freudig und erstaunlich fettleibig den Menschen, der hier | |
besonders zu Beginn des Sommers Seltenheitswert besitzt. Das Wörterbuch | |
übersetzt Fjell schlicht mit Berg oder Felsen, dabei heißt in Norwegen so | |
ziemlich alles, was nicht gerade zu Feldern, Wiesen, Forsten oder zur Küste | |
gehört, so. Also ziemlich viel, denn nur drei Prozent der gesamten | |
Landesfläche wurden überhaupt kultiviert. Der Rest ist Wildnis. | |
Auf der Alm Midtbrennsætra stemmt sich ein aus klobigen Balken errichtetes | |
Gebäude mit seinem Steinfundament dem Hang entgegen. Niemand ist hier. Auch | |
morgen wird niemand hier sein, denn der Himmel zieht sich konsequent zu. | |
Hinter der Alm beginnt das Nationalparkgebiet. Es war 1962 die erste von | |
der norwegischen Regierung eingerichtete Schutzzone dieser Art. Dabei ging | |
es vornehmlich um die zwei- bis viertausend Wildrene, die durch das Rondane | |
sowie das benachbarte Dovrefjell streifen. Sie sollen Schutz und Ruhe beim | |
Kalben genießen, weshalb sogar Wanderrouten verlegt wurden. Außerdem | |
vergrößerten die Behörden den Nationalpark 2003 noch einmal – vergeben aber | |
nichtsdestotrotz zur Rentierjagd im Herbst rund 5.000 Lizenzen. | |
## Rutschige Stege | |
Etwa zeitgleich, wenn die Schäfer ihre blökenden Herden in die Berge | |
treiben, um sie dort sich selbst zu überlassen, montiert der norwegische | |
Wanderverein Den Norske Turistforeningen (DNT) Sommerbrücken über Flüsse | |
und öffnet seine Berghütten. Viele Routen werden durch die Arbeit des DNT | |
überhaupt erst für jemanden wie mich begehbar. Absicherungen, Wegweiser | |
oder bequeme Übergänge bleiben jedoch Raritäten: Wer Natur will, bekommt | |
sie weitestgehend ungeschminkt. Der schwere Rucksack beeinträchtigt die | |
Balance auf dem provisorischen, rutschigen Steg über einen Bach. Im | |
nächsten Augenblick überspült eiskaltes Wasser meine Beine. Wie ging das so | |
schnell? Ich angele nach den Trekkingstöcken, bevor sie mit der Gischt | |
bergab sausen. | |
Schmerzen habe ich zum Glück nicht. Hilf dir selbst, so hilft dir Gott – | |
das ist ganz offensichtlich ein norwegisches Motto. Also einmal tief | |
durchatmen und die Böschung hinauf, um sich anschließend warm zu laufen. | |
Zumindest bis sich der Pfad zwischen Sträuchern verliert. Er ist auf einmal | |
einfach nicht mehr da. Auf der anderen Seite des Baches leuchtet die letzte | |
Markierung. Wildwechsel, womöglich von äsenden Elchen gebahnt, enden in | |
struppigem Wucherwuchs. Zum Teufel, wo ist der Weg? Die Natur ist nicht | |
länger schön, das Abenteuer schickt keine leise prickelnden Schauer mehr | |
über meine Haut. Mich zukünftig von Würmern und Beeren zu ernähren, das | |
sollte bestimmt nicht Teil dieses Feldversuches werden. | |
Eigentlich hört man immer wieder, der Wanderverein kümmere sich sehr | |
gründlich um die Kennzeichnung der Routen. Alle zwei Jahre würden sie | |
kontrolliert und das Gebüsch zurückgeschnitten, berichtete mir die | |
Mitarbeiterin Bella Engen. Die 38-Jährige hat etliche Jahre in Freiburg | |
gelebt. Wieder zu Hause, nahm sie an einem DNT-Kurs teil, damit sie | |
ehrenamtlich bei der Markierung der Wege helfen kann. „Wir transportieren | |
die rote Farbe in Ketchup-Flaschen und mit Henkeln versehenen Bierdosen, | |
bei denen der obere Teil abgetrennt wird. Damit frischen wir verblasste | |
Wegmarken auf oder malen sie neu. Regelmäßig schichten wir auch | |
Steintürmchen auf, denn von Weitem sind sie oft noch besser zu sehen als | |
die T-Zeichen.“ | |
## Rot verzierte Steine | |
So viel Umsicht. Aber tatsächlich, auch „in meinem Fall“ hat sie gewaltet. | |
Ein gutes Stück oberhalb von Steg und Pfad leuchten rot verzierte Steine an | |
beiden Bachufern. Noch mal Glück gehabt. Aber der Schrecken, mich im Nichts | |
verirrt zu haben, sitzt mir in den Knochen. | |
Es beginnt heftig zu schütten, und die kleine Lichtung der Alm Fagerli | |
steht bald unter Wasser. Bloß am Rand, zwischen hohem Schilf, findet sich | |
noch ein Platz zum Campen, der „nur“ morastig ist. Die ganze Nacht drischt | |
der Regen wie verrückt auf meine Behausung ein. Ich träume von einem Haus, | |
mit einem Sessel vorm Kaminfeuer. | |
Von der Schneeschmelze und den heftigen Güssen angeschwollen, haben sich | |
Bäche zu knietiefen Flüssen verbreitert. Einer Bergkuppe folgt die nächste. | |
Angetaute Schneefelder verstecken den Weg. Mit einem Blick auf ihre Zungen, | |
die unter meinem Gewicht brechen könnten, umrunde ich sie und nehme dafür | |
Umwege in Kauf. Der Rucksack drückt. Langsam, tastend geht es voran, denn | |
das Schlimmste wäre ein Fehltritt, nach einem Unfall verletzt liegen zu | |
bleiben. | |
Schließlich, nach steilem Abstieg hinunter zur Alm Musvolsætra, lauschen | |
ein paar Schafe allen Klagen, die sich angestaut haben. Das Experiment | |
„Into the Wild“ nähert sich – im Gegensatz zu Christopher McCandless’ | |
Geschichte – seinem guten Ende. Bis zur Berghütte Bjørnhollia ist es nicht | |
mehr weit. Sie soll den besten Trockenraum im gesamten Rondane besitzen. | |
16 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Angelika Wilke | |
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