| # taz.de -- Flüchtlinge in Norwegen: Nördlich vom Nirgendwo | |
| > In Nordnorwegen leben Flüchtlinge nahe an der Wildnis. Es ist ungewohnt | |
| > kalt und dunkel – Holz hacken, Skifahren und Angeln halten aber warm. | |
| Bild: Kochen in der Kälte: Flüchtlinge aus Hammerfest bereiten Essen zu. | |
| Hammerfest ap | Nachdem sie sich zwei lange Monate hinter dem Horizont | |
| versteckt hatte, geht die Sonne endlich wieder in Hammerfest auf. Sie wirft | |
| einen rosa Schimmer über die arktische Landschaft, die das nördlichste | |
| Flüchtlingslager der Welt umgibt. | |
| Wenige Flüchtlinge haben damit, 460 Kilometer nördlich des Polarkreises zu | |
| landen, als sie ihre Heimatländer verließen, um Gewalt, Armut oder Krieg zu | |
| entkommen. Manche wurden von norwegischen Behörden hierher verlegt, andere | |
| bahnten sich einen Fluchtweg durch Russland und gelangten über die | |
| norwegische Grenze nach Westeuropa. Mehr als 5.000 Menschen, hauptsächlich | |
| aus Syrien und Afghanistan, nahmen vergangenes Jahr diese Route, bevor die | |
| Grenzen im November dicht gemacht wurden. | |
| Verglichen mit der eine Million Menschen, die Europa 2015 über das | |
| Mittelmeer erreichten, sind das wenige. Dennoch mussten norwegische | |
| Behörden schnell Flüchtlingsunterkünfte in kleinen, meilenweit durch | |
| unberührte Wildnis getrennten Städten errichten. | |
| Von ihrem bescheidenen Zimmer aus bewundert Huda al-Haggar das | |
| Schneewunderland, eine Aussicht, die so anders ist, als die in ihrer Heimat | |
| Jemen, wo saudi-arabische Luftangriffe ihr Zuhause zerstörten. „Es ist | |
| wundervoll, wenn ich morgens aufwache und dieses Bild sehe, das Meer und | |
| die Berge“, sagt die junge Frau. Die Holzbaracken, in denen sie und ihr | |
| fünfjähriger Sohn leben, gehörten Ölarbeitern, bis die europäische | |
| Flüchtlingskrise die abgelegenen Häfen des nördlichen Norwegens erreichte. | |
| Während sie darauf warten, dass ihre Asylanträge bearbeitet werden, | |
| gewöhnen sich Hunderte Menschen in Notunterkünften in Hammerfest und den | |
| Nachbarorten an die ungewohnten Verhältnisse im hohen Norden. | |
| ## Nördlich von der Mitte von Nirgendwo | |
| An der Küste steigt die Temperatur selten über Minus zehn Grad, im | |
| Landesinneren wird es sogar noch kälter. Daran würden sie sich gewöhnen, | |
| sagen die Flüchtlinge. Zu schaffen mache ihnen die Dunkelheit. Er sei vor | |
| der Polarnacht gewarnt worden, sagt Rami Saad, ein 23-jähriger Syrer aus | |
| Damaskus. Aber er habe es nicht geglaubt, bis im November plötzlich keine | |
| Sonne mehr da war und seine biologische Uhr völlig durcheinandergeriet. | |
| Auf der Insel Seiland, einem Naturreservat westlich von Hammerfest, wurde | |
| Stig Erland Hansen gefragt, ob er vorübergehend Flüchtlinge in einer | |
| abgelegenen Hütte beherbergen könnte, in der er im Sommer | |
| Abenteuertouristen unterbringt. „Erst dachte ich, das ist verrückt“, sagt | |
| Hansen. „Ist es möglich, Menschen im Dunkeln auf einer Insel | |
| unterzubringen?“ | |
| Es war nicht nur möglich, es war ein großer Erfolg, sagen Hansen und Pål | |
| Mannsverk, der Verwalter der Holzhäuser mit Blick auf einen unberührten | |
| Fjord. Nur mit dem Boot erreichbar, bekommt man bei der isolierten Lage den | |
| Eindruck, man sei am Ende der Welt – oder wie Mannsverk es ausdrückt: | |
| „nördlich von der Mitte von Nirgendwo“. | |
| Dennoch fühlen sich die 36 hier lebenden Asylanwärter wohl. Das liege | |
| daran, dass man sie in Bewegung halte, sagen Hansen und Mannsverk. Sie | |
| gehen fischen, hacken Holz, fahren Ski und wandern, anstatt herumzusitzen | |
| und auf eine Entscheidung der norwegischen Einwanderungsbehörde zu warten, | |
| die mehr als ein Jahr auf sich warten lassen kann. | |
| ## Schlittenfahrende Kinder | |
| Das Camp auf Seiland ist in jeder Hinsicht weit entfernt von vielen | |
| überfüllten, gefängnisgleichen Flüchtlingsunterkünften in Europa. | |
| Afghanische Kinder lachen und albern, wenn sie mit dem Schlitten die Piste | |
| vom Camp zur felsigen Küstenlinie herabsausen, wo Männer Fische ausspülen, | |
| die sie im eisigen Fjord geangelt haben und über einem offenen Feuer | |
| braten, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet. | |
| Für manche ist der Kontrast zu dem Leben, das sie hinter sich gelassen | |
| haben, beinahe surreal. „Ich hätte mir das niemals träumen lassen“, sagt | |
| der 20-jährige Sakria Sedequi. Er sei aus Afghanistan geflohen, nachdem die | |
| Taliban versucht hätten, ihn anzuwerben. | |
| Die 62-jährige Schukria Nawabi bricht in Tränen aus, als sie sich an die | |
| Not erinnert, die ihre Familie in Kabul erleiden musste. Ihre Tochter Sufja | |
| wirkt beinah beleidigt, wenn sie darauf angesprochen wird, ob es der | |
| Familie schwerfalle, sich an die Dunkelheit auf der abgeschiedenen Insel zu | |
| gewöhnen. „Wenn Sie in meiner Heimat wären, wo Bomben in Straßen hochgehen, | |
| wo Frauen schlecht behandelt werden, und sie kommen an diesen Ort, würden | |
| sie sich Gedanken über die Dunkelheit und die Abgeschiedenheit machen?“ | |
| Eine Handvoll Männer sah das anders. Sie entschieden, dass dies kein Platz | |
| für sie ist, packten ihre Sachen und baten darum, aufs Festland gebracht zu | |
| werden. | |
| ## „Hergekommen, um in Frieden zu leben“ | |
| Im Frühling wird die Hütte wieder Touristen zur Verfügung stehen und die | |
| Asylanwärter müssen woanders untergebracht werden, vielleicht in einem der | |
| Flüchtlingszentren in Alta. Die 20.000-Einwohner-Stadt hat Erfahrung mit | |
| der Integration von Flüchtlingen. | |
| Die Mitarbeiter des Hero Asylcenters versuchen, Neuankömmlinge auf das | |
| Leben in Norwegen vorzubereiten, indem sie ihnen lokale Gewohnheiten | |
| nahebringen – unter anderem auch, wie man Frauen behandelt. „Norwegische | |
| Frauen dürfen Alkohol trinken und so laut sein wie Männer, das ist hier | |
| völlig normal“, sagt Ingunn Sørgård. Ihre hauptsächlich aus Syrien | |
| stammenden Zuhörer sehen sie befremdet an. Nicht weil sie es verrückt | |
| finden, dass norwegische Frauen Alkohol trinken, sondern dass Sørgård | |
| glaubt, sie wüssten das nicht. | |
| „Wir haben das im Fernsehen gesehen und wissen, dass es hier so ist, das | |
| ist kein Thema“, sagt der 31-jährige Lehrer Anod al-Ali aus Syrien. „Wir | |
| sind hergekommen, um in Frieden zu leben“, sagt der Ingenieur Ahmed Dawwas, | |
| 36. „Wir sind vor dem Krieg geflohen, wir sind nicht hier, um Frauen zu | |
| verfolgen. Ich weiß nicht, warum dies allen Syrern erklärt werden muss.“ | |
| 20 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Karl Ritter | |
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