| # taz.de -- Trendsport als Lebenseinstellung: Sie hassen Wettkämpfe | |
| > Parkour ist längst kein Undergroundsport mehr – es gibt Profis und | |
| > Sponsoren. Seine Begründer lehnen Wettkämpfe ab. Ihnen geht es um | |
| > Respekt. | |
| Bild: Er wird von Red Bull gesponsert: deutscher Traceur Jason Paul | |
| Ein Sonntagmorgen in Berlin-Mitte. Müde Eltern verfrachten ihre Kinder auf | |
| den Spielplatz am Weinbergspark und fläzen sich dann faul in die Sonne. | |
| Vorher hat man sich im Galão A Pastelaria einen Kaffee und etwas Süßes | |
| geholt und schaut jetzt gelangweilt nach dem Nachwuchs. Ganz hinten im Eck | |
| sind aber noch diese Typen, die nicht gekommen sind, um zu spielen. Sie | |
| trainieren. Ein paar von ihnen, die schlabbrige graue Trainingshosen | |
| tragen, gehen mit Anlauf über eine Mauer, drehen und überschlagen sich und | |
| landen im Sand. | |
| Ein paar Mütter schauen verdutzt und rücken mit ihren Kleinsten ab vom | |
| Geschehen. Die Typen dehnen sich und probieren mit stoischer Gelassenheit | |
| Sprünge von einem Betonteil zum anderen. Immer wieder Sprünge. Ausmessen | |
| der eigenen Fähigkeiten. Dazwischen ruhiges Fachsimpeln und ein paar | |
| Lockerungsübungen. Sie hüpfen auf die Lehne einer Bank, und später erklimmt | |
| einer von ihnen eine Pergola aus Stahlstreben und katapultiert sich in | |
| luftiger Höhe von einer Stange zur nächsten. Es ist ein kleines | |
| turnerisches Meisterwerk, ein äquilibristischer Tanz im urbanen Raum. | |
| Sie nennen sich Traceure, ihr Sport ist Parkour, und dafür nutzen sie | |
| alles, was sich ihnen in der Stadt bietet: Mauern, Streben, Hindernisse. | |
| Die Typen auf dem Spielplatz am Weinbergspark können unbehelligt ihr Ding | |
| machen. Die Berlin-Mitte-Eltern fühlen sich nicht gestört, weil die | |
| Traceure alles andere als Poser oder Provokateure sind. | |
| An diesem schönen Sonntag stellt sich ein Zustand perfekter friedlicher | |
| Koexistenz ein. Jeder darf hier sein, die Dreijährigen und auch die | |
| Dreißigjährigen in ihren Schlabberhosen. Warum auch nicht, denn die Kinder | |
| machen ja eigentlich auch nichts anderes als Parkour, im Kletternetz oder | |
| an der Rutsche, die sie verkehrt herum hochkraxeln. Eltern und Traceure | |
| scheinen sich blind zu verstehen. Vielleicht, weil beide in einer mehr oder | |
| weniger klaren Welt der Werte leben. | |
| ## „Parkour hat eine große Kraft“ | |
| Die Springmeister und Alleserklimmer haben sich in Berlin unter dem Dach | |
| von [1][ParkourONE] sogar eine eigene Charta verpasst, ein Vademekum des | |
| ethisch richtigen Hüpfens sozusagen. Es geht um „Konkurrenzfreiheit, | |
| Vorsicht, Respekt, Vertrauen und Bescheidenheit“. Diese „Werte-Finger | |
| werden zur Faust der inneren Stärke geballt“. Ben Scheffler weiß, dass das | |
| vielleicht esoterisch klingt, aber er nennt sogar noch einen sechsten Wert, | |
| „Ehrlichkeit“. Der 29-Jährige nimmt diesen Sport sehr ernst, das ist klar. | |
| Er begreift sich als Purist, der die Ursprünge und Urideen dieses Sports | |
| konservieren möchte, ohne sie in Bernstein einzuschließen. | |
| „Parkour hat eine große Kraft, die ich mir bis heute nicht erklären kann“, | |
| sagt er, auf den Stufen vorm Berliner Velodrom sitzend. Das ist ein | |
| bemerkenswerter Ansatz in der Welt des organisierten Kommerzsports, des | |
| Dopings und der forcierten Konkurrenzgeilheit. Dieser Ansatz möge | |
| idealistisch sein, sagt Scheffler, aber bestimmt nicht naiv. Sein Sport | |
| basiere nun mal auf einer „Gemeinschaft von Leuten, die ein gleiches | |
| Mindset haben. Der philosophische Aspekt von Parkour ist wichtiger als der | |
| athletische. Es geht nicht darum, dass du die Bewegung kannst, sondern was | |
| du daraus machst.“ | |
| Scheffler hat vor über zehn Jahren mit Parkour angefangen. Ein | |
| Erweckungserlebnis: „Es war der Beginn eines Lebenswandels, ich bin in ein | |
| komplett anderes Leben hineingerutscht und habe plötzlich trainiert wie die | |
| Sau.“ Vorher saß er viele Stunden am Tag vorm Monitor und verdaddelte die | |
| Zeit mit Computerspielen. Dann sah er irgendwo in den Tiefen des Internets | |
| diese Videos von französischen Kids, die in Vorstädten wie Lisses oder Evry | |
| südlich von Paris Parkour erschufen – oder wie es anfangs hieß: les arts du | |
| déplacement. | |
| Viele sehen in dem Franzosen David Belle den Begründer der Sportart. Dessen | |
| Vater Raymond Belle, Sohn eines Franzosen und einer Vietnamesin, geriet in | |
| den Wirren des Indochinakrieges in ein Waisenhaus, wo die Kinder zu | |
| Soldaten ausgebildet wurden, sie lernten verschiedene Kampftechniken und | |
| Überlebensstrategien. | |
| ## Wenn die Trendforscher kommen | |
| Diese Art der Körperbeherrschung hat Belle, der in Paris dann als | |
| Feuerwehrmann arbeitete, nach Europa getragen und an seinen Sohn | |
| weitergegeben. Der Keim ging auf. Parkour wurde cool, [2][spätestens nach | |
| einer Sequenz im James-Bond-Film „Casino Royal“.] Scheffler und seine | |
| Freunde saugten alles auf, was aus Frankreich kam, sie fuhren sogar | |
| regelmäßig dorthin. Es waren Pilgerfahrten zu den Begründern, zu | |
| Mitgliedern der Gruppe Yamakasi. „Das waren wichtige Erlebnisse für uns“, | |
| erinnert sich Scheffler. | |
| Ihnen wurde klar, dass sie härter und intensiver trainieren mussten, um | |
| deren Standard zu erreichen. Derweil wuchs die Gemeinschaft in Berlin. | |
| Richtungskämpfe wurden geführt, denn es kamen viele Kids, die Parkour nur | |
| als lässigen Fun- und Trendsport begreifen wollten, als Spaß für | |
| Stadtnarzissten. Sie trafen auf Leute, die die reine Lehre vertraten, auf | |
| Leute wie Scheffler. Sie nahmen die jungen Springinsfelde ins Gebet: „Es | |
| geht auch darum, ein besserer Mensch zu werden.“ Und vor allem: „Parkour | |
| kennt den Wettkampf nicht, es ist unsinnig, daraus einen Wettbewerb zu | |
| machen.“ | |
| Diese Parkourkämpfe hat es in jeder großen Stadt gegeben. Die Lösung war, | |
| dass sich die kommerzorientierten Spaßspringer unter dem Label Freerunning | |
| sammelten und jene, die „Werbung für Bier, Zigaretten, Red Bull oder | |
| Coca-Cola als unethisch“ ansahen, beim Parkour blieben und die | |
| Verweigerungshaltung zur Kunstform erhoben. | |
| Trendforscher und Aufmerksamkeitsökonomen verstehen es ja meisterlich, | |
| subversiven Sport zu vereinnahmen und ihn unter dem Label des Coolen und | |
| Neuen groß herauszubringen. Diese Metamorphosen haben fast alle | |
| Graswurzelbewegungen des Sports durchmachen müssen, ob es sich um | |
| Skateboarding oder Freestyleskiing gehandelt hat. Technisch gesehen machen | |
| Traceure in den Sparten Parkour und Freerunning fast das Gleiche, aber | |
| mental unterscheiden sie sich voneinander wie Straßenrennradler und | |
| BMX-Fahrer. | |
| Ein deutscher Traceur, der den Weg der konsequenten Selbstvermarktung | |
| eingeschlagen hat, ist der Frankfurter Jason Paul. Er wird von Red Bull | |
| gesponsert, hat mit Freunden das Modelabel Farang gegründet. Paul versteht | |
| sich als „Vagabund“. Er hat seine Wohnung in Deutschland aufgelöst, alles | |
| weggeschmissen, was nicht in einen Koffer passt und lebt nun das Leben | |
| eines wahrhaft freien Freerunners, der durch die Welt jettet, von Thailand | |
| nach Japan, nach Hongkong, in die Vereinigten Arabischen Emirate und | |
| zurück. Er ist nie lange an einem Ort, dreht Videos, die dann bestenfalls | |
| auf YouTube zum Hit werden, oder nimmt an Wettkämpfen teil, zumindest in | |
| der Vergangenheit. | |
| Red Bull veranstaltet seit vielen Jahren die Art of Motion mit | |
| spektakulären Bildern von den weißen Dächern im griechischen Santorini, | |
| Puma das Freerunning Race, es gibt die Jamba Speed Challenge und | |
| dergleichen mehr zirzensische Shows. Es geht um Spektakel, Lifestyle, Party | |
| und die Zielgruppe der 14- bis 40-Jährigen. Jason Paul trifft sicherlich | |
| den Geschmack der Red-Bull-Gemeinde, wenn er auf die Frage, in welche Rolle | |
| er denn gern einmal schlüpfen möchte, sagt: „Ich wäre definitiv gern ein | |
| heißes Girl, ich würde den ganzen Tag an meinen Brüsten rumfummeln und | |
| herausfinden, wie sich ein weiblicher Orgasmus anfühlt. Ich hoffe nur, ich | |
| hätte dann nicht meine Periode.“ Ihm geht es aber auch um die Gemeinschaft, | |
| „um eine Gemeinschaft von kreativen Arschgeigen“, wie er das nennt, die | |
| überall, wo sie auftauchen, mächtig Wirbel machen und Spaß haben. | |
| ## Es ist Kunst, aber kein Geschäft | |
| In ihrer Welt sind Jason Paul, Kie Willis, der allein 28 Sponsoren hat, | |
| oder Phil Doyle Stars. Von ihnen stehen großartige Videos im Netz wie zum | |
| Beispiel [3][eine Jagd über die Dächer von Cambridge], untermalt mit der | |
| Musik von Professor Longhairs „Big Chief“. Das ist große Kunst – und gro… | |
| Sport. „Ich guck mir das auch gerne an“, sagt Ben Scheffler, „das sind | |
| krasse Athleten, Ausnahmetypen. Ich wünsche es ihnen, dass dieses Showbiz | |
| auch in Zukunft funktioniert, aber mir wäre dieser Lebensstil zu fremd und | |
| zu risikoreich.“ | |
| Vielleicht auch deswegen, weil Parkour und Freerunning es noch nicht | |
| geschafft haben, den Weg durch die Instanzen des organisierten Sports zu | |
| gehen, also dorthin, wo Funktionäre in Verbänden den Bewegungsdrang der | |
| Basis verwalten. In diesem Jahr ist ein neuer Anlauf gescheitert. | |
| SportAccord, die Dachorganisation für den olympischen und nichtolympischen | |
| Sport, hat den Antrag der International Parkour Federation (IPF) und des | |
| Mouvement international du parkour, freerunning et l’art du déplacement | |
| (FIADD) abgelehnt, schon zum dritten Mal. Dafür dürfen sich Armdrücken und | |
| Poker Hoffnung auf Aufnahme in die große Sportfamilie machen. | |
| Ben Scheffler ist das eigentlich ganz recht. Er will weiter einen Sport | |
| betreiben, bei dem ihm keiner Vorschriften macht. „Parkour hat viel mehr | |
| mit der Seele zu tun als mit Struktur“, sagt er. | |
| 16 Apr 2016 | |
| ## LINKS | |
| [1] http://parkourone.com/regionen/deutschland/berlin/ | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=iZxNbAwY_rk | |
| [3] https://youtu.be/voB6WiP83NU | |
| ## AUTOREN | |
| Markus Völker | |
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