# taz.de -- Streit um Heimatschutz: Rebellion op’n Diek | |
> Seit Jahrhunderten stehen im Alten Land Häuser auf den Deichen. Das | |
> Deichgesetz verbietet das seit 2004. Bürger und Politik wollen das nun | |
> ändern. | |
Bild: Ist laut Deichgesetz verboten: Ein Haus auf einem Deich an der Lühe im A… | |
MITTELNKIRCHEN taz | Das Haus auf dem Deich an der schmalen Straße in | |
Mittelnkirchen fällt nicht besonders auf, außer, dass es eine sehr große | |
Hausnummer hat – zwei große, graue Achten. Wie die Nachbargebäude steht es | |
mit dem Giebel nach vorn, hat ein einfaches Satteldach und ist aus | |
Backstein. Dass das Haus ein Neubau ist, sticht nicht weiter ins Auge. | |
Ebenso wenig, dass es nicht direkt auf dem Deich steht, sondern im | |
Überflutungsgebiet der Lühe. Mag es von außen auch unscheinbar wirken, so | |
hat das Haus doch eine bewegte Geschichte zu erzählen, die es zu einer Art | |
Symbol macht, im Kampf um die Kulturlandschaft Altes Land. | |
Das Backsteinhaus mit der großen Hausnummer gehört Volker Weinhard und | |
könnte mit seiner modernen Ausstattung und dem Holzfußboden in einem | |
Magazin abgebildet sein, das sich um „schönes Wohnen“ dreht. Weinhard, | |
Mitte vierzig, sportlich, schimmernde Hornbrille, sitzt in seiner hellen | |
Wohnküche. Er ist sehr gastfreundlich und in der Gegend gut vernetzt. Auch | |
Hildegard von Gilgenheimb ist gekommen, eine distinguierte 68-Jährige, die | |
seit 1976 in einem Haus von 1903 wohnt, das unmittelbar am Deich an der | |
Este steht. Zusammen setzen sich die beiden für den Erhalt der | |
Kulturlandschaft im Alten Land ein. | |
Um was es ihnen geht, lässt sich ansatzweise in Weinhards Küche erahnen: | |
Durch die ganzseitige Glasfront blickt man auf eine leicht abschüssige | |
Wiese mit vielen Kirschbäumen, wo in unmittelbarer Nähe, von Sand und | |
Schilf gesäumt, die kurvige, vielleicht fünf Meter breite Lühe entlang | |
fließt. Am oberen Rand des gegenüberliegenden Deiches lugen die Spitzen der | |
Häuser hervor, die auch dort auf der anderen Seite auf dem Deich stehen. | |
Von Gilgenheimb erklärt die historisch gewachsene Siedlungsstruktur im | |
Alten Land, spricht darüber, wie die Bauern am Deich siedelten, mit Land | |
hinter den meist großen Fachwerkhäusern und dass die Handwerker und Händler | |
ohne Land sich in Katen auf den Deichen von Este und Lühe selbst | |
niederließen. | |
Bis heute gibt es hier viele Gaststätten. Doch während sie mit solchen | |
Namen wie „Op’n Diek“ oder „Altes Fährhaus“ damit Werbung machen, im… | |
im „idyllischen Garten“ direkt am Fluss sitzen zu können, ist genau dieses | |
Leben auf und an dem Deich im Alten Land in Gefahr. Schuld ist das 2004 | |
verabschiedete Niedersächsische Deichgesetz, das die Benutzung des Deiches | |
außer zum Zweck „der Deicherhaltung“ verbietet. | |
Weinhard, der selbständig in der IT-Branche arbeitet, breitet viele Blätter | |
auf seinem großen Küchentisch aus. Er will erklären, warum dieses Gesetz im | |
Alten Land auf so viel Widerstand stößt und was das alles auch mit seinem | |
schmucken Neubau zu tun hat. „Es sind die Paragrafen 14 und 16, die uns zu | |
schaffen machen“, sagt er und zeigt auf eine Tabelle. 460 Gebäude seien von | |
Paragraf 14 betroffen, etwa zehn Prozent der Bevölkerung im Alten Land, | |
rund 1.850 Personen. | |
Die Gebäude befinden sich allesamt direkt auf den Deichen an Este und Lühe, | |
jenen beiden Flüssen, die im Abstand von rund acht Kilometern wie zentrale | |
Adern durch das Alte Land fließen. Weinhard zeigt auf gelb unterlegte | |
Passagen auf einem der Blätter: Die Häuser dürfen da laut Paragraf 14 nicht | |
stehen. Nur die Deichbehörde könnte entsprechende Ausnahmen genehmigen. | |
Dann Paragraf 16, von dem etwa 1.400 Gebäuden betroffen sind: Gleich ein | |
Viertel der Bevölkerung des Alten Landes lebt in einer Zone von 50 Metern | |
landseitig am Deich, in der laut Gesetz „Anlagen jeder Art nicht errichtet | |
oder wesentlich geändert werden dürfen“. | |
## Hunderte rot markierte Häuser sind betroffen | |
Weinhard nimmt ein weiteres Blatt und zeigt Luftbilder, auf denen zu sehen | |
ist, in welch stark mäandrierender Form die Lühe und die Este sich von der | |
Geest in Richtung Norden schlängeln, um schließlich in die Elbe zu münden. | |
Weinhard hat die vielen Häuser, die in der besagten 50-Meter-Schutzzone | |
stehen, rot markiert. | |
„Würde man das Gesetz umsetzen, so würde man das Alte Land ausradieren“, | |
sagt von Gilgenheimb. „Das Alte Land besteht nicht nur aus den bekannten | |
Obstplantagen.“ Auch die jahrhundertealte Siedlungsweise unmittelbar an den | |
beiden Flüssen, mitsamt vielen verstreut stehenden Bäumen auf und an den | |
Deichen, habe einen Reiz. | |
Weinhard zeigt eine Karte des Alten Lands, das sich von Stade bis nach | |
Hamburg-Finkenwerder erstreckt. Er erzählt, wie die Holländer das Gebiet im | |
13. Jahrhundert in Etappen, in sogenannten Meilen, von Schwinge bis zur | |
Lühe, von der Lühe bis zur Este und schließlich bis nach Hamburg | |
trockengelegt und besiedelt haben. „Auf Grund dieser niederländischen | |
Prägung wird diese abgrenzbare Kulturlandschaft auch als Hollerlandschaft | |
bezeichnet“, erklärt von Gilgenheimb. Der geschichtliche und geografische | |
Hintergrund, das Bemühen um Anerkennung als Weltkulturerbe, all das ist den | |
beiden ein Anliegen. | |
Doch während nun einerseits der Charme des Alten Landes vermarktet werden | |
solle, würden emsige Oberdeichrichter der für die insgesamt drei Meilen | |
zuständigen Deichverbände immer mehr Bäume auf den Deichen fällen — Linde… | |
Eichen und Kirschbäume, wie vor zwei Jahren in Estebrügge. Hausbesitzer | |
kämen in Bedrängnis, wenn sie wegen Veränderungen an ihrem Gebäuden auf | |
Ausnahmegenehmigungen angewiesen seien. | |
Bei Volker Weinhard brannte 2011 seine knapp 150 Jahre alte Reetdachkate | |
ab. Als er das Haus neu bauen wollte, begann auch bei ihm der Streit. Der | |
zuständige Deichverband „Zweite Meile Alten Landes“ habe zunächst nicht | |
einmal zulassen wollen, dass die Brandruine abgerissen wird. „Weil die | |
Bagger angeblich den Deich zu sehr beschädigt hätten“, sagt Weinhard. Der | |
damals zuständige technischen Berater des Deichverbandes habe ihm gesagt, | |
dass er ihm zeigen wolle, welche Rechte der Verband habe. Weinhard spricht | |
von einer „Kampfansage“. Etliche weitere Versuche des Deichverbands habe es | |
gegeben, den Neubau zu verhindern. Ein Gutachten belegte dann, dass die | |
Bagger den Deich weniger beschädigen als befestigen würden. | |
Als die Weinhards ihr neues Haus schließlich einige Meter von dem | |
ursprünglichen Platz der Kate entfernt errichteten, weil hier nicht mehr | |
das Deichgesetz, sondern das Wasserhaushaltsgesetz Anwendung findet, wollte | |
der Deichverband verhindern, dass die Weinhards zu ihrem Grundstück kommen, | |
weil sie Privatbesitz des Verbandes überqueren müssten. Ein Argument, das | |
von der Gemeindeverwaltung entkräftet wurde, weil sie für die Unterhaltung | |
des öffentlichen Weges zuständig ist. | |
## Initiativen mit breiter Unterstütztung | |
„Nur mit viel Überzeugungsarbeit und Unterstützung von Nachbarn war es uns | |
möglich, Ende 2013 hier in dieses Haus ziehen zu können“, sagt Weinhard und | |
gießt frischen Espresso nach. Diesen Kampf, der sich über zwei Jahre | |
hinzog, wünsche er keinem. Ende 2013 rief er deshalb die Initiative | |
„Deichbürger 13“ ins Leben, fast zeitgleich gründete sich in Estebrügge … | |
Interessensgemeinschaft „IG Este“, in der von Gilgenheimb aktiv ist. Es | |
geht ihnen um eine sachliche Auseinandersetzung mit den Themen | |
Deichsicherheit, Küsten- und Hochwasserschutz und an der Este zudem um die | |
Rettung der Bäume auf den Deichen. | |
Die beiden Initiativen erfahren breite Unterstützung. Weinhard zeigt auf | |
zwei Seiten mit einer langen Liste an Logos: von den Heimat- und | |
Bürgerverbänden der Region, den Landfrauen und allen Parteien des Stader | |
Kreistages. Dieser unterstützt einstimmig den Antrag der CDU-Fraktion im | |
niedersächsischen Landtag, das 2004 von der CDU-Regierung verabschiedete | |
Niedersächsische Deichgesetz so zu verändern, dass Deichschutz und | |
Bestandsschutz in Einklang gebracht werden können. Etwa, indem die Deiche | |
von Lühe und Este nicht mehr den Küstendeichen gleichgesetzt werden, | |
sondern die Flüsse in das Hochwasserrisikomanagement des Bundes aufgenommen | |
werden, bei dem mögliche Schutzmaßnahmen bereits von der Quelle an bis hin | |
zur Mündung realisiert werden. | |
Der zuständige Experte im grün-geleiteten Umweltministerium, Peter Horn, | |
sieht das bislang noch nicht ein. „Eine Aufweichung der deichrechtlichen | |
Bestimmungen würde die Wehrfähigkeit der Deiche langfristig schwächen“, | |
sagt er und verweist darauf, dass das Deichgesetz „ausreichend Spielraum“ | |
ließe, um zu sachgerechten Entscheidungen in Einzelfällen zu kommen. Doch | |
die Altländer hoffen, dass sich die Meinung der Landesregierung ändert, | |
sobald sich die Politiker die Situation vor Ort ansehen. Die Entscheidung | |
über eine Gesetzesänderung soll im Landtag noch vor der Sommerpause fallen. | |
Sie könnten es kaum erwarten, sagen von Gilgenheimb und Weinhard. Als sie | |
all ihre Dokumente wieder zusammenpacken, die ihren Widerstand | |
dokumentieren, räkelt sich auch Weinhards stattlicher, weißer Hund, der | |
bislang mucksmäuschenstill war und es kommen die Kinder nach Hause — in ein | |
Haus, von dem sie wohl nicht ahnen, wie hart die Eltern es erkämpften. | |
10 Apr 2016 | |
## AUTOREN | |
Darijana Hahn | |
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Deiche | |
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