# taz.de -- Bremen: Emigrés bienvenues?: Als die Syrer Franzosen waren | |
> Nach der französischen Revolution erlebte Bremen einen im Verhältnis | |
> mindestens so großen Flüchtlingszuzug wie heute – und profitierte. | |
Bild: So sah Bremen aus, als die vielen Flüchtlinge kamen - Ende des 18. Jahrh… | |
BREMEN taz | Auf dem Domshof kampieren 150 Flüchtlinge und fordern vom | |
Bremer Senat ein Notquartier. Täglich erscheinen vor den Toren der Stadt | |
kleinere und größere Gruppen von Menschen, die auf der Flucht vor einem | |
Terrorregime einen weiten, gefährlichen Weg bis Norddeutschland | |
zurückgelegt haben. Bremen wird von einer „bisher beispiellosen | |
Flüchtlingswelle überrollt“ – und geht damit letztlich, nach anfänglicher | |
Sorge, vergleichsweise unaufgeregt um. Das zeigt eine historische | |
Fallstudie, die die Situation in Bremen nach der Französischen Revolution | |
und dem sich anschließenden Jakobiner-Regime untersucht. | |
Quantitativ war die Situation mit der heutigen mindestens vergleichbar, | |
möglicherweise deutlich ausgeprägter. Bremen hatte Ende des 18. | |
Jahrhunderts rund 30.000 Einwohner. Die exakte Zahl der damaligen | |
Flüchtlinge kann nicht mehr ermittelt werden, zeitgenössische Quellen | |
sprechen jedoch allein für die Krisenjahren zwischen 1794 und 1796 von | |
6.000 Personen. Der Historiker Hartmut Müller, Autor der Fallstudie | |
„Emigrés bienvenues?“, hält das für stark übertrieben, denn namentlich | |
bekannt sind für diesen Zeitraum nur 1.054 Flüchtlinge. Demnach kann von | |
einem temporären Wachstum zwischen mindestens 3,3 und maximal 20 Prozent | |
ausgegangen werden. Derzeit erlebt Bremen einen Bevölkerungszuwachs durch | |
Geflüchtete von etwas über zwei Prozent in drei Jahren. | |
## „Ihnen widerfuhren viele Guhttaten“ | |
Festzuhalten ist: Bremen hatte auch damals bereits Erfahrungen mit | |
Flüchtlingssituationen: Größere Zuströme verzeichnete die Stadt im Zuge der | |
nachreformatorischen Glaubenskriege. Während des 30-jährigen Krieges flohen | |
zahlreiche Protestanten aus Sachsen, der Pfalz und Böhme ins schon früh | |
reformierte Bremen. Ende der 1680er-Jahre kamen auf einen Schlag | |
siebenhundert in Frankreich verfolgte Hugenotten nach Bremen, wo ihnen nach | |
Ansicht des zeitgenössischen Chronisten Peter Koster „viele Guhttaten | |
widerfuhren“. Gut hundert Jahre später, mit Beginn der französischen | |
Revolution, waren die Dimensionen jedoch andere. Und zu den Franzosen, die | |
vor dem zunehmenden „Terreur“ der Jakobiner flüchteten, kamen zahlreiche | |
Emigranten aus den von den französischen Revolutionstruppen nach und nach | |
überrollten europäischen Ländern: insbesondere aus den Niederlanden und | |
Brabant. | |
Hartmut Müller, der frühere Direktor des Bremer Staatsarchivs, hat | |
akribisch aus den Ratsakten rekonstruiert, wie Senat und Bevölkerung | |
reagierten. Ersterer zunächst mit dem Einsetzen einer Arbeitsgruppe mit dem | |
etwas ungelenken Titel „Wegen der Emigranten niedergesetzten Commission“. | |
Die machte sich zunächst Gedanken à la Sigmar Gabriel: Führe der Zustrom zu | |
einer Lebensmittel-Verteuerung, sei „mit Murren und Missvergnügen“ der | |
ärmeren Leute zu rechnen. Zudem warf die Kommission die Frage auf, ob die | |
Zuwanderer „nach Gesinnung, Religion und Bräuchen“ in die Stadt passen | |
würden – was heute den Muslimen unterstellt wird, galt damals in Bezug auf | |
Katholiken. | |
## „So unangenehm diese Strenge auch sei für gefühlvolle Herzen“ | |
Dann jedoch schlug die Kommission Merkel-Töne an und führte aus: „Schon | |
schaudert die Menschheit bey dem blossen Gedanken an die Strenge, mit der | |
die armen Emigranten aus Frankreich allen Orten behandelt werden. Nirgends | |
beinah wurde diesen mitleidenswerten Leuten (…) ein Aufenthalt gewährt.“ Am | |
Ende ihrer Ausführungen legt sich die Kommission dann aber dennoch, | |
zumindest vorläufig, auf eine Seehofer-Linie fest: Bremen solle die | |
Flüchtlinge nicht in großem Stil aufnehmen, „so unangenehm diese Strenge | |
auch für gefühlvolle Herzen“ sei. Immerhin blieb man bei der | |
Einzelfallprüfung: Jeder Ankömmling musste 16 Fragen beantworten und vor | |
dem Stadttor auf einen positiven Bescheid hoffen. | |
Anders als Seehofer hatte der Senat allerdings ein echtes Problem – ein | |
außenpolitisches: Bremen fürchtete eine Eroberung durch französische | |
Revolutionstruppen und wollte durch eine auffällige Aufnahme von | |
Revolutionsflüchtlingen keinen Anlass dafür bieten. Bekanntlich wurde | |
Bremen tatsächlich von den Franzosen besetzt, aber erst 15 Jahre später – | |
und ob die Flüchtlingspolitik der Stadt eine relevante Rolle bei dieser | |
strategischen Entscheidung Napoleons spielte, bleibt fraglich. | |
Doch bevor es so weit kam, nahmen die Flüchtlingsströme drastisch zu. „Wir | |
müssen alles aufnehmen, was andere Länder ausspeien, da keine Kontrolle | |
mehr an den Toren besteht“, klagte der Eltermann Warneken im Sommer 1795. | |
Es herrschte akute Wohnungsnot. Aufnahme, so hat es Hartmut Müller | |
recherchiert, „fanden die Flüchtlinge bei den kleinen Leuten in der | |
Altstadt, häufiger noch in der Neustadt“. Nur „ganz selten“ tauchte ein | |
Ratsherr auf den Gastgeberlisten auf, sagt Müller. Arbeit oder | |
Beschäftigung zu finden, sei für die meisten Flüchtlinge in Bremen „fast | |
aussichtslos“ gewesen. Andererseits übernahm wiederum die Oberschicht | |
schnell französische Tisch- und Kommunikationssitten und ließ ihren | |
Nachwuchs von Emigranten in modernen französischen Tänzen und gepflegter | |
Kommunikation unterrichten. | |
## Falsche Brabanter | |
Zudem gab es Bürger, die einen freiwilligen „Verpflichtungsschein“ zur | |
Versorgung von Flüchtlingen unterzeichneten, eine auch aktuell vorhandene | |
Form individuellen Engagements. Und auch seinerzeit gab es erhitzte | |
Diskussionen über Winterabschiebungen – „so weit es die Menschenliebe bey | |
dem rauhen Winter nur gestatten wolle“. Es gab falsche Brabanter, also | |
Franzosen, die – im Wissen um die Bremer Befindlichkeiten – ein anderes | |
Herkunftsland angaben. | |
Selbst die heute zu hörende Frage: Warum haben die denn ein Smartphone?!“ | |
hat einen historischen Vorläufer: Das von einigen Bremern geäußerte | |
Befremden darüber, dass etliche der oftmals aus der Oberschicht stammenden | |
Flüchtlinge „immer noch Bedienstete bei sich haben“. | |
Müller, der seine Fallstudie im immer wieder höchst lesenswerten | |
„Bremischen Jahrbuch“ publiziert hat, resümiert die historische Erfahrung | |
der Bremer mit Geflüchteten wie folgt: „Nicht wenige hatten gut an ihnen | |
verdient.“ Bremen habe während der 1790er-Jahre „eine wirtschaftlich | |
ausgesprochene Blütezeit erlebt“. Und weiter: „Dass die meisten Brabanter | |
und später auch die französischen Refugiés als Katholiken ,nach Gesinnung, | |
Religion und Gebräuchen‘ nicht in die Stadt passten, wie anfangs | |
prognostiziert worden war, hatte niemanden wirklich gestört.“ | |
14 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Henning Bleyl | |
## TAGS | |
Bremen | |
Französische Revolution | |
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