# taz.de -- Debatte Totalitärer Sport: Inspiration und Innovation | |
> Robert Redeker beschwerte sich neulich, dass es überall nur noch Sport | |
> gebe. Darüber sollten Intellektuelle nicht schimpfen. Eine Antwort. | |
Bild: „Immer neue Varianten im Verhältnis unserer Körper zum Raum und seine… | |
Sport, anders gesagt: Rituale körperlicher Performanz unter oszillierenden | |
Motivationen von Konkurrenz und Selbststeigerung, hat noch nie so breiten | |
und prominenten Raum in der Gesellschaft eingenommen wie heute – und die | |
Tendenz ist steigend. | |
Lange hatte das Wissen von den panhellenischen Spielen den Eindruck | |
nahegelegt, der Ursprung und frühe Höhepunkt des Sports müsse in der | |
antiken griechischen Kultur gelegen haben. Inzwischen ist aber deutlich | |
geworden, dass er erst seit dem frühen 20. Jahrhundert zu einem | |
gesamtgesellschaftlichen und globalen Phänomen wurde, während seine Präsenz | |
in verschiedenen Kontexten der Vergangenheit durchaus prekär war, etwa in | |
der mittelalterlichen Beschränkung auf das aristokratische Privileg der | |
Jagd. | |
Mit [1][Robert Redeker teile ich die Ausgangsprämisse von der | |
überwältigenden Präsenz des Sports] in unserer Gegenwart – doch viel weiter | |
geht unser Konsens nicht. | |
In ihrer Struktur ging die für manche Zeitgenossen irritierende Präsenz des | |
Sports aus einer nicht vor dem Ende des 20. Jahrhunderts zum Abschluss | |
gekommenen Entwicklung hervor. Wenn einerseits aktiver Sport noch bis etwa | |
1950 hauptsächlich „olympischer” Amateursport war und in einer polemischen | |
Beziehung zu jenen wenigen Sportarten stand, die genug Zuschauer anzogen, | |
um Berufsathleten unterhalten zu können, so haben auf der anderen Seite vor | |
allem die progressive Ausweitung der individuellen Freizeit und eine neue | |
Sorge um Gesundheit zu einer Ausweitung des aktiv betriebenen Sports und | |
von Sportarten geführt, die fast alle unter diesen neuen Bedingungen | |
Berufssportler hervorgebracht haben. | |
Daher ist seit den Olympischen Spielen der achtziger Jahre mit dem Ende der | |
Verpflichtung auf den Amateurstatus auch die Spannung gegenüber dem | |
Berufssport geschwunden. Seither gehören zu allen Sportarten Profis, | |
Amateure und im Stadion oder über die Medien präsente Zuschauer. | |
## Verschwörung, Dekadenz | |
Als komplexe Institution deckt der moderne Sport ein breites Spektrum | |
verschiedener Formen ab. Peter Sloterdijk hat einmal „besoffene Fans, die | |
gedopten Athleten zugröhlen” als Emblem des heutigen Sports identifiziert – | |
und doch zugleich auf die Möglichkeit verwiesen, den aktiven und vor allem | |
den Zuschauersport als eine neue Form ästhetischer Erfahrung in den | |
klassischen Modalitäten des Schönen und Erhabenen zu identifizieren. | |
So kann man aus individueller oder auch politisch motivierter Sicht die | |
überwältigende Präsenz des Sports als erdrückend erleben, auch als | |
kulturelles Dekadenzphänomen oder als Ideologie. Das Produkt einer | |
klassenspezifisch bewussten Verschwörung allerdings, die sich auf Grund | |
„besseren Wissens” und auf „politischen Beschluss‘” einfach aufheben … | |
ist er aber gewiss nicht, sondern eher das Ergebnis von langfristigen | |
Kompensationsbewegungen der Moderne. | |
In einer Arbeitswelt, welche selbst die früher den Körper maximal | |
belastenden proletarischen Berufe immer weiter durch Arbeit vor | |
Computerbildschirmen ersetzt, sodass mit dieser Fusion von Bewusstsein und | |
Software Descartes’ Formel von der Synonymität zwischen „Denken” und | |
„menschlichem Sein” eine überraschende Erfüllung zu finden scheint, sollt… | |
selbst Intellektuelle über die breite Sehnsucht nach individuellen | |
körperlichen Herausforderungen als Freizeitinhalt nicht klagen, ja nicht | |
einmal über das Bedürfnis, Teil eines „kollektiven Körpers” unter Stadio… | |
und nun auch Public-Viewing-Bedingungen zu sein. | |
Denn sie sind nichts anderes als Reaktionen auf einen Verlust unmittelbaren | |
Körpererlebens, der sich als Konsequenz von Modernisierungsprozessen | |
eingestellt hat. | |
## Die Expansion der Sportberichterstattung | |
Hinzu kommen die Auswirkungen einer Alltagswelt, deren ständig steigende | |
Zahl von Verhaltensalternativen uns tendenziell überfordert. Mit | |
individuell praktiziertem Sport wie mit den Kollektivsituationen des | |
Zuschauersports können wir – manchmal wenigstens – zum Eindruck einer | |
erhabenen Intensität beim Erleben unserer eigenen Existenz zurückfinden. | |
Jene kulturellen Werte und ihre Hierarchien hingegen, die Robert Redeker | |
als grundsätzlich adäquat vorauszusetzen scheint, wenn er sich über die | |
Expansion der Sportberichterstattung, über das hohe Einkommen von Sportlern | |
und über die Formen ihrer Ökonomie beklagt, beruhen auf Prämissen, die | |
einfach nicht mehr zeitgemäß sind. Gerade ein historisch gebildeter | |
Intellektueller sollte angesichts schwindender Niveaus der Partizipation | |
skeptisch werden, was den hier als absolut unterstellten Gebrauchswert der | |
klassischen Musik, der Philosophie – und möglicherweise sogar der Politik | |
angeht. | |
Es ist wohl an der Zeit, eine Anekdote aus dem Leben von Babe Ruth, dem | |
spektakulärsten Spieler in der Geschichte des Baseballs, zu neuer | |
polemischer Geltung zu bringen. Als er Mitte der zwanziger Jahre angesichts | |
eines Jahresgehalts von 100.000 Dollar gefragt wurde, ob er es für | |
berechtigt halte, mehr als der Präsident der Vereinigten Staaten zu | |
verdienen, antwortete Ruth lakonisch: „I had the better season!” | |
## Motor der Innovation? | |
Man sollte sich wohl auch das Gedankenspiel erlauben, ob die soziale und | |
wirtschaftliche Ausdehnung von Freizeit und Unterhaltung nicht positiv als | |
Symptom eines immer weniger entfremdeten individuellen und kollektiven | |
Lebens erfahren werden kann. Zur Revision steht schließlich das Vorurteil | |
an, dass der Sport und die ihn beschreibenden Diskurse zu grauer | |
Wiederholung verdammt und mithin zur Verödung unserer Vorstellungskraft | |
bestimmt seien. | |
Ist der Sport nicht eher ein Motor der Innovation? Und könnte nicht zum | |
Beispiel die inspirierende Rolle des Sports für verschiedene | |
Design-Dimensionen an Relevanz zunehmen aufgrund seiner Fähigkeit, immer | |
neue Varianten im Verhältnis unserer Körper zum Raum und seinen | |
Gegenständen zu erfinden? | |
Lionel Messi und seine Trainer etwa werden immer wieder dafür gepriesen, | |
den Raum des Fußballspiels in einer Weise zu konzipieren und zu nutzen, auf | |
die sich die Sprache der Taktik mit dem Begriff des „verdeckten | |
Mittelstürmers“ bezieht. Diese Entdeckung zum Beispiel weckt die | |
Vorstellung, dass ein Transfer in die Institutionen alltäglich praktischer | |
Interaktionen möglich sein sollte - mit Folgen, die sich mit der Entdeckung | |
des Touchscreens oder der Maus in der elektronischen Technologie | |
vergleichen ließen. Nicht dem Sport fehlt es an Innovationsenergie – die | |
fehlende Vorstellungskraft der Ingenieure hat es versäumt, ihn als eine | |
Quelle potenzieller Veränderungen zu nutzen. | |
## Geld und Celebrities | |
Kaum widersprechen will ich allerdings Redekers Beobachtung, dass Geld von | |
einer elementaren Voraussetzung des Sportspektakels zu einem seiner | |
zentralen Inhalte geworden ist. Leser deutscher Zeitungen erfahren längst | |
mehr über die Fernsehverträge in der englischen Liga und über die von ihnen | |
ausgelösten Inflationstendenzen auf dem „Spieler-Markt“ als von den Stärk… | |
und Schwächen ihrer prominentesten Mannschaften. | |
Andererseits hat sich ein eigentümlich behäbiger Stolz auf die | |
wirtschaftliche Solidität der deutschen Bundesliga herausgebildet, deren | |
eigenes Merkmal ja in der wachsenden Zahl von sich werbewirksam | |
präsentierenden Firmenmannschaften liegt. Zu dieser Welt gehören nun auch | |
schon Sportler, die nach dem Zenit ihrer Karriere weiter durch | |
Investitionen, Ferienorte oder Partnerbeziehungen von sich reden machen – | |
und damit vom Status des Stars zu dem der Celebrities mutieren. | |
Dass mich solche Subspektakel in der Gegenwart des Sports kaum faszinieren, | |
muss ich wohl eher als Folge meines fortgeschrittenen Alters und einer | |
beruflichen Deformation (als Geisteswissenschaftler und Intellektueller) | |
ansehen denn als Ergebnis eines ästhetischen oder gar ethischen Urteils. | |
Denn ich glaube nicht, dass der Sport seine Aktiven und zuschauenden | |
Konsumenten dazu verführt, die „Imperative einer ultraliberalen Wirtschaft | |
euphorisch zu akzeptieren”. Abgesehen von der dabei unterstellten Bedeutung | |
des Wortes „ultraliberal” (aus nordamerikanischer Perspektive sehen die | |
europäischen Gesellschaften ja eher sozialdemokratistisch aus), scheint die | |
primäre Akzeptanz solcher Lebensformen immer schon viel höher zu liegen, | |
als dies kritische Intellektuelle zuzugeben bereit sind. | |
Wahrscheinlich braucht die dominante wirtschaftliche Lebensform unserer | |
Zeit also gar keine ideologische Verbrämung durch Sport. Und vielleicht | |
steht der Sport als Industrie so lange erst am Beginn seiner möglichen | |
Entwicklung, wie er die Abhängigkeit von klassischen Industriezweigen als | |
Sponsoren hinnimmt, statt mit ihnen an der Börse zu konkurrieren und sie am | |
Ende sogar zu übernehmen. Bayern München oder Borussia Dortmund als | |
Mehrheitsaktionäre bei VW – das sollte eine Herausforderung zukünftiger | |
Wirklichkeit für unsere vom Sport gewiss nicht geschwächte | |
Vorstellungskraft sein! | |
31 Jan 2016 | |
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## AUTOREN | |
Hans Ulrich Gumbrecht | |
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