| # taz.de -- Wirtschaftlicher Notstand in Venezuela: Einkaufen, ein Vollzeitjob | |
| > Warteschlangen vor den Geschäften gehören zum Alltag. Wegen des Ölpreises | |
| > aber droht nun die Versorgung in Venezuela zusammenzubrechen. | |
| Bild: Warteschlange vor einem Supermarkt in Caracas am 16. Januar 2016 | |
| Caracas taz | Marta Herrero hat es eilig. Mit der Endziffer Null in ihrem | |
| Ausweis darf sie heute einkaufen gehen. 0 bis 4 gilt an Samstagen, 5 bis 9 | |
| sonntags. Der Montag ist für die 35-Jährige ebenfalls Einkaufstag, zusammen | |
| mit den Einsen. Seit knapp einem Jahr gibt es in Venezuela das | |
| Nummernsystem. Damit die Menschen vor den staatlichen Verkaufs- und den | |
| privaten Supermärkten nicht mehr stundenlang anstehen müssen. | |
| Um 7 Uhr in der Früh ist die Schlange vor dem Supermarkt Unicasa im | |
| Stadtteil Bello Monte bereits hundert Meter lang. Um halb 8 werden kleine | |
| Zettel mit Nummern ausgegeben, um 8 öffnet Unicasa die Tore. Marta hat die | |
| Nummer 132. Das heißt: etwa drei Stunden warten. „Nicht schlecht“, sagt | |
| sie. „Beim letzten Mal hatte ich die 156.“ Sie zeigt ihre Hand, auf der | |
| verblichene Zahlen gerade noch zu entziffern sind. „Manchmal gibt es keine | |
| Zettel. Dann schreiben sie sie dir mit Filzstift darauf.“ | |
| Die wirtschaftliche Situation in Venezuela ist schlecht. Seit der Preis für | |
| das wichtigste Exportprodukt Öl weltweit verfällt, ist sie katastrophal. | |
| Noch im September 2014 lag der Preis für das Fass Öl bei knapp über 90 | |
| Dollar, jetzt ist er auf unter 25 Dollar gerutscht. Die Versorgung in dem | |
| extrem importabhängigen Land droht deswegen zusammenzubrechen. Am 15. | |
| Januar hat Präsident Nicolás Maduro den wirtschaftlichen Notstand erklärt. | |
| Damit könnte er Maßnahmen ergreifen, um die Bevölkerung vor weiteren | |
| Einschnitten in der medizinischen und sozialen Grundversorgung zu schützen. | |
| Könnte – bislang ist das nur theoretisch, bislang herrscht das | |
| Nummernsystem. | |
| Nur wer eine Nummer hat, darf warten, bis er an der Reihe ist, um die Waren | |
| mit den staatlich festgeschriebenen Preisen zu erwerben. Das Ley de Precios | |
| Justos (Gesetz für gerechte Preise) ist seit 2011 in Kraft, es reguliert | |
| sowohl die Preise für viele Lebensmittel wie auch für Hygieneartikel oder | |
| Kosmetika. | |
| ## Zwei Stunden für ein Shampoo | |
| Marta Herrero braucht heute vorgekochtes Maismehl für ihre morgendlichen | |
| Arepas, Speiseöl und Zucker. Aber noch weiß sie nicht, was es überhaupt zu | |
| kaufen gibt. „Schlange stehen sind wir seit Jahren gewöhnt. Aber im Moment | |
| ist das Angebot katastrophal.“ Sie komme bald wieder, sagt sie den | |
| Wartenden vor und hinter sich, sie müsse unbedingt in die Drogerie. Ob man | |
| ihr den Platz in der Schlange freihalten wolle? Mal sehen. | |
| Drei Straßen weiter zieht sich in der Drogerie Farmatodo die Schleife der | |
| Wartenden an sechs Regalreihen entlang. Nummern gibt es hier nicht. Knapp | |
| zwei Stunden, kalkuliert Marta, werde sie anstehen müssen. Das | |
| Tagesangebot: ein Kilo Waschmittel, zwei Flaschen Shampoo und zwei Päckchen | |
| Binden pro Person zu regulierten Preisen. Marta strahlt. Shampoo! Und genau | |
| die Marke, die sie will. | |
| Drei Tage pro Woche arbeitet Marta Herrero als Bürohilfe bei einem | |
| Rechtsanwalt in Caracas. Ihr Verdienst, knapp 17.000 Bolívares, reicht | |
| überhaupt nicht. Also geht sie einkaufen. Für sich, ihre Schwester und ihre | |
| Eltern, die im Landesinneren wohnen. Dort sei das Angebot noch | |
| katastrophaler. Einmal in der Woche fährt ein Cousin Martas in die Provinz, | |
| nimmt volle Taschen mit und kommt mit Bestellzetteln zurück. „Meine | |
| Schwester arbeitet Vollzeit“, erzählt Marta. „Und meine Eltern sind schon | |
| älter, die können nicht drei Stunden für ein Stück Seife anstehen.“ | |
| Deswegen haben sie ein Arrangement: Die Schwester zahlt die Miete für die | |
| gemeinsame Wohnung und die Eltern schießen Marta etwas zu. Die geht dafür | |
| für alle einkaufen. Eine Bachaquera sei sie deswegen nicht, sagt Marta | |
| Herrero. Sie verlange den normalen Einkaufspreis, und wenn ein Bekannter | |
| mal etwas braucht, dann kauft sie es eben mit. | |
| ## Vollprofessionelles Schlangestehen | |
| Bachaquero war ursprünglich eine Bezeichnung für kleine Schmuggler im | |
| venezolanisch-kolumbianischen Grenzgebiet – abgeleitet von der dort | |
| lebenden Blattschneiderameise Bachaco, die ihre Last auf dem Rücken | |
| transportiert. Inzwischen hat sich der Begriff auf die halb- und | |
| vollprofessionellen SchlangesteherInnen vor den Geschäften ausgedehnt. | |
| Nach einer Studie der Consultingfirma Ecoanalítica sind 3 Millionen der | |
| rund 15 Millionen erwerbsfähigen VenezolanerInnen als Bachaqueros tätig. | |
| Etwa zwei Drittel dieser 3 Millionen sind Teilzeit-Bachaqueros, das heißt, | |
| sie gehen einer formellen Arbeit nach und verdienen sich als | |
| Käufer/Wiederverkäufer ein Zubrot. Ein Drittel hat den formellen | |
| Arbeitsmarkt ganz verlassen. Ein Bachaquero verdient im Schnitt 80.000 | |
| Bolívares im Monat. Was sich nach viel anhört, schrumpft bei einem | |
| Schwarzmarktkurs von rund 840 Bolívares für 1 Dollar auf 95 Dollar | |
| zusammen. | |
| Ruhig und langsam geht es bei Farmatodo voran. Sie sei wegen des | |
| Waschmittels hier, sagt die Frau vor Marta. Er hatte auf Rasierklingen | |
| gehofft, sagt der Mann hinter ihr. Marta braucht unbedingt Shampoo. Sie | |
| tauschen Tipps und sind sich einig, dass es noch nie so schlimm war wie | |
| jetzt. Nach einer halben Stunde ist das Waschmittel ausverkauft. Klaglos | |
| verlassen einige die Drogerie. Dann werden die letzten Shampoos ausgegeben. | |
| Marta geht leer aus. An der Kasse zahlt sie 64 Bolívares für zwei Päckchen | |
| Binden. | |
| Zwei Stunden hat sie in der Drogerie verbracht. Schnell läuft sie zurück zu | |
| Unicasa. Sie hat Glück, sie darf ihren Platz in der Schlange wieder | |
| einnehmen. Das Tagesangebot hat sich herumgesprochen. Pro Person zwei Kilo | |
| vorgekochtes Maismehl, ein Liter Speiseöl und ein Dutzend Eier. Solange der | |
| Vorrat reicht. Wieder wird das Rollgitter am Eingang hochgeschoben, wieder | |
| wird eine kleine Gruppe eingelassen. Diesmal ist Marta Herrero mit von der | |
| Partie. | |
| ## Etwas Luxus muss sein | |
| Marta Herrero schiebt ihren Einkaufswagen durchs Gedränge. Ein | |
| uniformierter Soldat überwacht die Ausgabeprozedur. „Jetzt noch ein Pfund | |
| Kaffee, bitte“, ruft jemand laut und erntet großes Gelächter. Kaffee gibt | |
| es derzeit gar nicht. Das Angebot in den Regalen erscheint reichhaltig. | |
| Doch alles, was nicht preisreguliert ist, ist teuer – zu teuer für viele. | |
| „Manchmal geht es eben nicht anders“, stöhnt Marta und greift nach einer | |
| Flasche Shampoo. „Das kostet zehnmal so viel wie meine regulierte Marke bei | |
| Farmatodo.“ | |
| 330 Bolívares erscheint auf dem Display der Kasse. Martas Ausweisnummer | |
| wird geprüft, dann muss sie den linken und den rechten Daumen auf den | |
| Scanner legen. Der Scan wird abgeglichen, das soll Wiederholungskäufe am | |
| gleichen Tag verhindern. | |
| „Angeblich sollen wir durchschnittlich fünf Stunden pro Woche Schlange | |
| stehen“, meint Marta. Aber allein heute habe sie sieben Stunden | |
| angestanden. Wäre sie nach Petare auf den Schwarzmarkt gefahren, hätte sie | |
| alles in einer halben Stunde bekommen. „Aber zu horrenden Preisen.“ | |
| Rund um die Metrostation Petare breiten die Händler an der Avenida | |
| Francisco de Miranda ihr Angebot auf Handtüchern aus. Nahe der Station der | |
| Nationalgarde ist das Angebot noch eher mickrig. Keine 50 Meter weiter | |
| stapeln sich Mehltüten und Waschpulverpackungen, stehen Shampooflaschen, | |
| liegen Päckchen mit Windeln und Binden aus. | |
| ## Manuel hat das Studium geschmissen | |
| Er heiße Manuel, einfach nur Manuel, sagt der junge Mann. Heute hat er | |
| vorgekochtes Maismehl im Angebot. 400 Bolívares die Kilopackung. Ja, er hat | |
| heute schon einiges verkauft. Kaffee? „Coño pana,“ kommt der Stoßseufzer. | |
| „Den findest du heute nirgends.“ Warum? Weiß er nicht. „Mañana, si Dios | |
| quiere“, Morgen, wenn Gott will. | |
| Dass Waren knapp sind, macht sich auch auf dem Markt der Bachaqueros | |
| bemerkbar. Bachaquero, das Wort mag der 23-jährige Manuel nicht. Spezialist | |
| für Ein- und Verkauf, das träfe die Sache besser. Drei Tage die Woche steht | |
| Manuel vor den Supermärkten Schlange, zwei Tage verkauft er an der Avenida. | |
| Es sei denn, es kommt ein Anruf. Die Bachaqueros haben ihre Kontakte zu den | |
| Angestellten der Supermärkte. „Kleines Handgeld für gute Tipps.“ Er | |
| schließt nachdrücklich die Hand. | |
| Seit knapp zwei Jahren ist Manuel im Geschäft. Das Studium an der | |
| Universidad Bolivariana de Venezuela hat er geschmissen. Internationale | |
| Beziehungen, 5. Semester. „Und was fängst du am Ende damit an, wer nimmt | |
| denn einen von dieser Chavisten-Uni?“, habe ihn sein Bruder gefragt. Er | |
| solle ihm lieber beim Einkaufen helfen, leichte Arbeit, guter Verdienst. | |
| Sie wechseln sich ab, die ganze Familie macht mit, Vater, Mutter, Bruder, | |
| Schwester und er. Sie kaufen alles, was staatliche Festpreise hat. Zu Hause | |
| haben sie ein gefülltes Lager. Und weil sie für alle Onkels und Tanten | |
| einkaufen, haben sie Ausweisnummern für alle Tage. | |
| ## Wie hoch ist die Inflationsrate? | |
| Warum die Fingerabdrücke kein Problem sind, bleibt Manuels Geheimnis. „Aber | |
| wir stehen wie alle Schlange.“ Zwei Stunden steht er an für zwei Kilo | |
| vorgekochtes Maismehl, zahlt 38 Bolívares und verkauft es für 800 Bolívares | |
| weiter. Rechnet sich das? | |
| „Der Mindestlohn sind 16.000 Bolívares, geteilt durch 20 Tage schuften für | |
| andere, das macht 800 Bolívares am Tag. Na, klingelt’s?“, antwortet Manuel. | |
| Gestern gab es beim Plaza’s das Instant-Maismehl wieder mal ohne | |
| Mengenlimit. 40 Kilo haben sie erworben. „Logisch, du musst schnell sein, | |
| sonst ist alles weg“, sagt Manuel. | |
| Ein wirkliches Problem sei sein Verkaufspreis. „Keiner weiß doch, wie hoch | |
| die Inflationsrate ist – 200 Prozent, oder sind wir schon bei 300?“ Shampoo | |
| kostet heute 400 Bolívares bei ihm. Kaffee hätte er für 800 Bolívares das | |
| Pfund verkauft, reguliert kostet es 24 Bolívares. | |
| 21 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Jürgen Vogt | |
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