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# taz.de -- Forscherin über Internet-Kunst in China: „Es ist intensiv und ü…
> Wegen Sprachbarrieren und Webblockaden hat das Netz in China eigene
> Trends. Künstlerin Michelle Proksell über Zensur, Rolltreppen-Memes und
> Virtual Boyfriends.
Bild: Virtuelle und physische Welt gehen nahtlos ineinander über: Bild aus dem…
taz: Frau Proksell, Sie erforschen das chinesische Internet, auch oft
„Chinternet“ genannt. Klingt mysteriös. Ist es das auch?
Michelle Proksell: Das chinesische Internet ist gar nicht so seltsam oder
mysteriös, sondern hat einfach seine eigene kulturellen Praktiken.
Aber warum die Kategorisierung? Das deutschsprachige Internet wird ja auch
nicht Dinternet genannt.
Das ist beim Chinternet schon ein bisschen anders. Seit Google China im
Jahr 2010 verließ, hat sich die Landschaft des Netzes deutlich verändert,
heute gibt es für alle Dienste, die es im Westen gibt, ein chinesisches
Äquivalent. Baidu ist wie Google, Weibo ist wie Twitter, Youkou ist wie
Youtube, WeChat ist wie WhatsApp – ein eigenes Ökosystem.
Woran liegt das?
Die Sprache ist eine große Hürde: Die chinesischen Websites sind ja
durchaus im Westen erreichbar, werden aber kaum benutzt. Umgekehrt sprechen
viele User in China kein Englisch. Und auch die Blockade ausländischer
Seiten durch die Regierung führt zu einer Aufteilung. Viele Menschen wissen
nicht, wie man ein VPN benutzt …
… eine vertrauliche, nicht abhörbare Verbindung, mit der man die Blockade
umgeht …
Das machen vor allem reichere, gebildetere Nutzer. Aber viele beschäftigen
sich nicht mit VPN haben, weil sie auch keinen Grund haben, das Chinternet
zu verlassen. Es ist so reichhaltig und divers, dass sie das restliche
Internet nicht vermissen. Und darum geht es auch in meiner Forschung.
Was genau erforschen Sie?
Ich dokumentiere digitale Artefakte aus dem chinesischen Internet und die
Entstehung von Internetkunst in China. Ich interessiere mich dafür, was
sich chinesische Internetnutzer gegenseitig zeigen, wie sie sich ausdrücken
und was man daraus über ihre Leben erfahren kann.
Sie betreiben Ihre Forschung komplett auf WeChat. Können Sie das kurz
erklären?
WeChat ist im Grunde eine Kurznachrichten-App wie WhatsApp – also, man kann
mit ihr Nachrichten mit Personen austauschen, deren Kontaktdaten man hat.
Aber es gibt ein paar eigene Funktionen. Erstens kann man „Momente“
veröffentlichen, das sind Fotos, Videos oder Links, die auch für die
Allgemeinheit freigeschaltet werden können. Dann gibt es eine „Personen in
der Gegend“-Funktion, mit der man mit Leuten chatten kann, die gerade
zufällig in der Nähe sind. Über diese Funktion schaue ich mir dann die
öffentlich gestellten „Momente“ an. Gleichzeitig veröffentliche ich so au…
meine Funde über WeChat – sozusagen als tägliche Performance.
Und was sehen Sie da so?
Am häufigsten sind es animierte Gifs, wie es sie auch im Rest des Internets
gibt und die im Chinternet „Sticker“ genannt werden. Aber auch speziellere
Sachen: Eine Weile war es in, dass Leute Fotos davon eingestellt haben, wie
sie angeblich ein Selfie mit dem Fuß aufnehmen – das machte sich über die
vielen Selfie-Sticks lustig. Viele posten Bilder von Essen, das sie auf
besondere Weise arrangiert haben. Einmal habe ich eine Serie von
Alltagsgegenständen, die Fotos aufgedruckt hatten, gepostet. Du willst
einen Lampenschirm, auf dem dein Familienporträt gedruckt ist? Kannst du in
China haben.
Was leiten Sie daraus ab?
In China sind virtuelles und physisches Leben nahtlos mit einander
verbunden, Objekte und Äußerungen werden digitalisiert, digitale Bilder und
Artefakte werden zu Objekten.
Sie sagten, Sie haben auch Einblick in das Privatleben der Leute …
Ja, sehr häufig sind die Fotos einfach Bilder aus dem eigenen Wohn- oder
Schlafzimmer, und da sind dann alle möglichen Leute dabei. Mit viel oder
wenig Geld. Riesige Wohnzimmer oder eher schlichte, die Gruppenunterkünfte
von migrierten Arbeitern. Auch bei anderen Bildern, etwa bei Selfies,
schaue ich immer auf die Details im Hintergrund, die mir verraten, wie die
Leute leben. Da sieht man die riesigen ökonomischen Unterschiede, die es in
China so gibt.
Wie ist die Ästhetik des Chinternets?
Die Bilder sind immer mit vielen Inhaltsschichten aufgeladen. Man hat ein
Foto, aber das wird noch mal bearbeitet, es werden glitzernde Sternchen und
Herzen hinzugefügt, Hintergründe unkenntlich gemacht, Gesichter mit Filtern
verfremdet. Die Bilder sind häufig sehr chaotisch und überladen – wie
übrigens Websites im Chinternet auch. Oft gibt es auch Stillleben, in denen
mehrere Sachen zusammengeschmissen sind, die irgendwie nicht
zusammengehören. Eine Freundin von mir nennt das „Internet-Ekstase“, es ist
intensiv und überwältigend. Aber es ist auch nicht so anders als China
außerhalb des Internets. Auf den Straßen ist immer viel los, und ich habe
das Gefühl, die Leute sind dieses Chaos gewöhnt.
China hat sicher auch ganz eigene Memes. Was gibt es da so?
Im vergangenen Jahr gab es eine Reihe von Rolltreppen-Unfälle, bei denen
Leute sogar gestorben sind. Da haben sich viele junge Leute darüber lustig
gemacht, dass die Rolltreppen eigentlich unbenutzbar seien. Sie haben Fotos
gepostet, wie sie auf allen vieren auf die Geländer steigen, um nicht auf
die Treppe selbst treten müssen. Kürzlich gab es nach dem vielen Smog in
Peking einen wunderschönen Regenbogen, und man konnte ihn zwei Stunden lang
quasi live mitverfolgen, weil wirklich alle Fotos gepostet haben.
Was ist das Seltsamste, das Sie im Chinternet erlebt haben?
Der „Virtual Boyfriend“ bzw. „Virtual Girlfriend“, was ich aber noch ni…
ausprobiert habe. Da zahlt man bei WeChat eine Summe und hat dann für den
Tag einen Freund oder eine Freundin, der oder die Nachrichten schreibt oder
anruft.
Dahinter steckt eine echte Person?
Ja. Das Faszinierende daran ist, dass man sich sehr intim einen ganz
unbekannten Menschen anvertraut, der einem aber irgendwie egal ist. Das
bereitet den Weg für zukünftige virtuelle Erfahrungen, bei denen vielleicht
nicht mal ein Mensch dahinterstecken muss – wie übertragen sich menschliche
Emotionen auf eine Beziehung zu einem Computerprogramm? So etwas Ähnliches
gibt es auch als „virtuellen Assistenten“, das sind dann Leute, die machen
Erledigungen wie Zugtickets kaufen oder Wäsche von der Reinigung abholen
oder so.
Ist das etwas typisch Chinesisches?
Es passt auf jeden Fall in die Zeit. Heutzutage gibt es eine riesige
Landflucht, es kommen viele Leute auf der Suche nach Arbeit in die Städte.
Für sie bieten solche Dienste Arbeitsplätze. Andererseits sind Verkehr und
Verschmutzung in den Städten so schlimm, dass, wer es sich leisten kann,
gerne solche Lieferdienste in Anspruch nimmt.
Wie ist das eigentlich mit der Zensur? Werden Sachen im WeChat nicht
wegzensiert, wie etwa auf Weibo?
Das ist bei Weibo anders, weil die Sachen öffentlich sind und nach gewissen
Wörtern gefiltert werden kann. Auf WeChat sehen die Inhalte nur deine
Kontakte und Leute, die zufällig in der Gegend sind. Deshalb wird da auch
viel offener über alles Mögliche diskutiert. Manchmal verbreiten sich aber
Sachen auch so weit, dass eingegriffen wird.
Sieht man es den Bildern an, dass Leute sich selbst zensieren?
Das ist Ansichtssache. Ich denke nicht, dass Leute aus Angst vor dem Staat
etwas verbergen. Sie wollen lieber einen Eindruck von sich vermitteln, den
sie für wünschenswerter halten. Aber das hat man auch anderswo: Arme Leute
werden vielleicht nicht unbedingt sich in ihrer Bruchbude fotografieren,
sondern vor einem teuren Auto, das sie auf der Straße gefunden haben. Da
wiederum gibt es auf WeChat unheimlich ehrliche Bilder von Leuten in den
Umständen, in denen sie leben.
Das heißt, die politische Zensur spielt eigentlich keine Rolle?
Ja und nein. Ich meine: Alle wissen, dass sie allgemein überwacht werden,
und achten sicher darauf, was sie wann wie sagen. Diese Strategien
entwickeln Leute im Westen erst jetzt, weil sie erst seit Snowden wirklich
wissen, dass es diese totale Überwachung gibt. Aber in China laufen alle
nicht permanent rum und fühlen sich unterdrückt. Die Leute machen das, was
Leute anderswo auch machen: spielen, Witze erzählen und shoppen.
15 Jan 2016
## AUTOREN
Lalon Sander
## TAGS
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