# taz.de -- Trostlosigkeit im Krankenhaus: Die Schwester hat eine ruhige Schicht | |
> Krankenhäuser sind wie Inseln ohne Sonnenschein, Palmen und Cocktails. | |
> Sie machen einsam. Wie soll man so gesund werden? | |
Bild: Es ist eine Insel – ohne all die schönen Dinge | |
Das Leben im Krankenzimmer verläuft wie auf einer einsamen Insel – einer | |
ohne Sonnenschein, ohne Palmen, ohne Cocktail mit kleinem Sonnenschirm aus | |
Papier, ohne rot, blau und grün schillernde Vögel. | |
Im Krankenzimmer 18, Station D 37, regiert Sachlichkeit, angespannte. Von | |
Ängsten und Hoffnungen – dem rettenden Schiff, das kommt, nicht kommt – | |
wird nur mit gedämpfter Stimme gesprochen. Ja, über die täglichen | |
Mahlzeiten kann man laut reden, und auch über die Untersuchungen, Spritzen, | |
Infusionen und medizinischen Checks, die den endlosen, den langen Tag | |
unterteilen. „Herr Schreiner, wie geht es uns?“ Da werden Temperatur und | |
Puls, Blutdruck und Blutzuckergehalt gemessen und penibel notiert. Einer | |
wird zum Röntgen, der Nächste zum CT befohlen. Die Verwaltungsangestellten | |
haben noch Fragen wegen der Krankenversicherung, der Oberarzt belehrt über | |
die Risiken der anstehenden Operation. | |
Alles ist wichtig und notwendig; alles wird mit größter Sorgfalt | |
durchgeführt. Dokumente müssen unterschrieben werden. Und sie werden es, | |
obwohl sie von den meisten Patienten nicht zu Ende gelesen wurden. Zu groß | |
die Erschöpfung, die Nervosität, die Betäubung durch die Schmerzmittel. | |
Dazu Müdigkeit, Apathie. Manchmal auch: Hoffnungslosigkeit. | |
Neuzugänge sind eine Abwechslung. Ihnen ist auf keinen Fall zu trauen. | |
Menschen in Straßenkleidung, die im Krankenzimmer gute Stimmung verbreiten | |
möchten. Sie denken noch, hier sei es wie auf dem Fußballplatz, an der | |
Bushaltestelle, im Wirtshaus. In kürzester Zeit jedoch gehören auch sie zu | |
diesem zusammengewürfelten Haufen, der an ein Pfadfindernachtlager | |
erinnert. Genauer: an eine Kasernenstube (weil keiner „Lazarett“ sagen | |
will). Der Landrat und der Gymnasialdirektor liegen Seite an Seite mit dem | |
Müllfahrer, dem Lokomotivführer. Selten flüstern sie miteinander. Meist | |
reden sie nur, wenn es nicht zu vermeiden ist: „Soll ich mich vor oder nach | |
Ihnen duschen?“ | |
## Alles ist sinnlos | |
Von den Gängen her sind laute Schritte zu hören, Wörter oder kurze Sätze, | |
die sich Pfleger und Krankenschwestern zurufen. Ein Patient wird gesucht – | |
Vorbereitung zur OP. Warum gehen die Pfleger nicht geradewegs zur Parkbank | |
neben dem Haupteingang, wo er seine fünfte, siebte, zehnte Zigarette | |
raucht? Verdenken kann man es ihm nicht, denn noch weiß niemand, wie es um | |
ihn stehen wird, wenn er nach seiner Operation im Aufwachraum zu sich | |
kommt. – Wenn er wieder zu sich kommt. | |
Die Zeit dehnt sich. Minuten, so lang wie Stunden. Alles ist sinnlos und | |
zugleich voller Sinn. Die Tageszeitung, eine der letzten Verbindungen zur | |
Außenwelt, wurde schon zwei-, dreimal gelesen. Nun liegt sie zerfleddert am | |
Fußende des Bettes, keiner kümmert sich ums überflüssige Papier. | |
Vielleicht geht für einen kurzen Augenblick die Sonne auf, wenn eine junge | |
– womöglich blonde – Krankenschwester das Herrenzimmer betritt. Lächelnd, | |
optimistisch, freundlich. „Die Tablette bitte vor dem Abendessen einnehmen, | |
ja?“ – „Brauchen Sie vielleicht noch ein Kissen?“. | |
Andere Schwestern gibt es auch. Gestrenge Florence Nightingales, die etwas | |
Harsches und Forderndes an sich haben, rechnen damit, dass ihnen die | |
Patienten unangenehme Fragen stellen oder auf vermeintliche Rechte pochen. | |
Aber auf Diskussionen lassen sie sich nicht ein. Was gilt, das gilt. Und | |
ehe der Patient so recht zu Wort gekommen ist, haben sie ihren Auftrag | |
erledigt und verschwinden festen Schrittes durch die Tür. | |
## Die Ungewissheit ist das Schlimmste | |
Glücklich die, die nach wenigen Tagen entlassen werden. Ihr Weg führt | |
zurück in die Welt. Dorthin wo Alltag ist, Normalität – eine, die zu | |
schätzen man gern vergisst: die Anmut einer belebten Kreuzung, der | |
verführerische Geruch von frischem Brot, die liebenswerte Unfreundlichkeit | |
des Busfahrers. | |
Die anderen Patienten zucken die Schultern. Entblößt in der Schwäche tun | |
sie, als wären sie stark, mannhaft eben, man kennt das. Niemand stellt sich | |
freimütig dem Schicksal, zurückgeblieben zu sein. | |
Wer auf der Männerstation liegt, braucht Geduld, und das umso mehr, weil | |
weder der Professor noch die Oberärzte und Krankenschwestern sich festlegen | |
möchten: „Jetzt warten wir noch zwei, drei Tage. Vielleicht kann ich Ihnen | |
dann Genaueres sagen.“ Hoffen kann man nur auf die Krankenhausverwaltung, | |
der lange Liegezeiten ohne Behandlungszinnober nicht recht sind. | |
Und dann überfällt einen wieder dieses Gefühl, gestrandet zu sein auf einer | |
unwirtlichen Insel. Alles ist weiß, klinisch, abgeschnitten vom Rest der | |
Welt. Keine Telefongespräche aus der Firma. Kein Stau an der Ampel, keine | |
Nachbarn, kein Alltag. Einige lesen, andere lesen unentwegt und reagieren | |
wortkarg, wenn der Nachbar etwas fragt. „Wann gibt es Kaffee?“ zum | |
Beispiel. Jüngere hören über Kopfhörer Musik, dieses scheußliche Zeug, das | |
wie eine Droge wirkt. Nts-nts-nts, so scheppert es, summt es im Raum. Ein | |
älterer Herr blättert in der Bibel, die er in seiner Nachttischschublade | |
fand. Eine junge Türkin – eine Frau – strickt und strickt und strickt am | |
Krankenbett ihres Vaters. So lange, bis sie den letzten Rest des Faden | |
aufgebraucht hat. Morgen wird sie neue Wolle mitbringen. | |
## Die taubenblaue Schlaftablette | |
Einige Patienten versuchen die Verbindung zur Außenwelt mithilfe des | |
Fernsehapparats aufrechtzuerhalten. Er hängt hoch oben an der Wand. Islamic | |
State, Südchinesisches Meer, Klimawandel und der dritte Weltkrieg, | |
dazwischen deutsche Fernsehproduktionen. Viele legen nach kurzer Zeit | |
ermattet den Kopfhörer aus der Hand, wenden sich ab und versinken in den | |
Kissen. Was sonst soll man tun als schlafen auf den zu weichen Matratzen. | |
Und wenn man in der Nacht kein Auge zubekommt, weil der Körper keine Ruhe | |
mehr braucht und quälende Gedanken durch den Kopf ziehen, dieses Kopfkino | |
mit der Poesie eines Fleischwolfs, muss die Krankenschwester mit einer | |
Tablette helfen. Das wirkt in der Regel, auch wenn es sich bei der | |
taubenblauen Pille meist um ein Placebo handelt. Wovon hier träumen? Vom | |
Lieblingsessen vielleicht. Reibekuchen mit Apfelmus. | |
Schon hinter der Zimmertür, ist eine andere, lebendigere Welt. Bis spät in | |
den Abend hinein herrscht auf den Gängen, in den Sprech- und Amtszimmern | |
reges Treiben. Schwestern und Pfleger kutschieren Patienten auf ihren | |
fahrbaren Betten hin und her. Tausende Handgriffe sind zu tun. | |
Zwischendurch kommt das Essen. Vielleicht gibt es auch Kuchen und Kaffee am | |
Nachmittag. Putzfrauen drängen sich ins Zimmer, wischen den Fußboden mit | |
antiseptischer Brühe. | |
Vielleicht sprechen die Schwestern und Pfleger manchmal auch über Privates? | |
Worüber genau? Sicher ist nur, dass sie nach der Schicht nach Hause fahren, | |
in ihr eigenes Leben. Sie steigen ins Auto oder in die Bahn. Man selbst | |
aber muss bleiben. | |
Die Ärzte arbeiten pausenlos. Augenblicke der Ruhe, der Entspannung sind | |
selten, weil draußen vor der Tür immer noch Hilfsbedürftige sitzen. Die | |
Termine für notwendige Operationen sind festgelegt und können nur im | |
Notfall verschoben werden. Herr Tischer nach Zimmer 15! Um 14 Uhr muss Herr | |
Pelosi auf dem OP-Tisch liegen! | |
## Wahrscheinlich Schweinshaxe | |
Das geht so bis zum Abend. Da erst kehrt Ruhe ein im Krankenhaus. Die | |
Nachtschwester, Carla ist ihr Name, hat mit ihrer Schicht begonnen und geht | |
von Zimmer zu Zimmer, um den Patienten eine gute Nacht zu wünschen. Letzte | |
Tabletten und Tropfen werden verteilt, Infusionen angestöpselt, | |
umgestöpselt. | |
Der kolossartige Schlossermeister Knuth mit der Pankreatitis schläft längst | |
tief und fest. Er schnarcht wie ein Rhinozeros und träumt wahrscheinlich | |
von einer Schweinshaxe mit Semmelknödeln. Der weißhaarige Herr Bühler mit | |
dem Leberschaden betet einen Rosenkranz – oder spricht er nur wirr im | |
Halbschlaf? | |
Alles in allem hat Schwester Carla in dieser Nacht eine ruhige Schicht. | |
Gegen halb zwei verlangt ein Kranker eine Beruhigungstablette. Kurz nach 4 | |
Uhr weckt einer der Patienten den ganzen Krankenhaustrakt mit einem wilden, | |
barbarischen Schrei. Nicht lange danach ist es wieder still. Nur hie und da | |
spricht einer laut im Schlaf. | |
Bis endlich Morgen ist. | |
13 Dec 2015 | |
## AUTOREN | |
Kurt Schreiner | |
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