Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Jugendamt: Bei Widerspruch ... Sorgerecht futsch?
> Weil sie nicht zur Schule ging, kam eine 14-Jährige ins geschlossene
> Mädchenheim. Den Eltern droht nun der Entzug des Sorgerechts.
Bild: Malerisch, aber weit weg von Göttingen: Gauting am Starnberger See
HAMBURG taz | Um in ein geschlossenes Heim zu kommen, braucht es manchmal
gar nicht viel, das zeigt der Fall der 14-jährigen Alicia* aus einem
kleinen Ort nahe Göttingen. Seit zwei Jahren geht sie nicht mehr regelmäßig
zur Schule. Ihr Vater Stefan K., bei dem sie wohnt, wusste bald nicht mehr
weiter und bat beim Jugendamt um Hilfe. „Lange Zeit haben die nichts
gemacht“, sagt er. Doch dann nahm die Sache Fahrt auf. Ende September, so
liest es sich im Gerichtsbeschluss, beantragen die Kindeseltern beim
Familiengericht, für ihre Tochter die geschlossene Unterbringung zu
genehmigen. Sie wussten noch nicht, was das bedeuten kann.
Am Morgen des 17. November um 8 Uhr früh besteigt Alicia einen ICE in
Richtung Süden. Erst jetzt erfahren die Eltern von der Mitarbeiterin des
Jugendamts, dass ihre Tochter ins bayerische Mädchenheim Gauting kommt. „Es
hieß immer, es sei eine Jugendeinrichtung in Essen“, sagt Stefan K. Zuhause
machen die Eltern sich im Internet kundig und sind erschrocken. „In einen
Kinderknast mit hohen Mauern drum sollte meine Tochter nicht kommen“, sagt
der 41-jährige. „So habe ich mir das nicht vorstellt.“
Die getrennt lebende Mutter Beata C. war sowieso gegen die Heim-Lösung und
wollte lieber eine ambulante Erziehungshilfe oder eine Wochengruppe für
ihre Tochter. Bisher kam das Mädchen regelmäßig am Nachmittag in ihre
Wohnung und spielte mit ihrer kleinen Halbschwester, die sie sehr liebt.
„Sie hat halt die Macke mit dem Schwänzen und ist faul“, sagt Beata C. „…
sie will nicht an ihre alte Schule – warum, damit rückt sie nicht so
richtig raus“. Doch psychisch krank sei ihre Tochter nicht.
Auch das psychiatrische Gutachten fürs Gericht bescheinigt dem Mädchen,
keine psychische Störung zu haben. Ihr Fernbleiben von der Schule sei durch
„Lust-Unlustgründe“ bestimmt. Der Arzt empfiehlt zwar eine
freiheitsentziehende Maßnahme von zwei Jahren, gibt aber zu bedenken, dass
ein geschlossenes Heim das Risiko bergen könnte, dass das Mädchen aufgrund
des negativen Einflusses ihrer dortigen Altersgenossinnen in ihrer
dissozialen Haltung gestärkt werden könnte. Möglicherweise sei
Erlebnispädagogik eine Alternative.
Nach wenigen Tagen kommen Briefe von Alicia. Vier Wochen lang darf es nur
Briefkontakt geben, dann erst ein Telefonat. „Ich hab Angst!“, schreibt
sie. „Ich will wieder nach Hause! Ich halte es ohne euch nicht aus! Ich
will hier raus!“
Die Eltern tun, was ihr Recht ist. Sie setzten am 19. November ein
Schreiben an das Jugendamt auf, in dem sie „mit sofortiger Wirkung
Widerspruch“ gegen die Unterbringung von Alicia in Gauting einlegen. Denn
ihre Tochter sei nicht krank und gehöre nicht in dieses Heim. Außerdem
bemühen sich die mittellosen Eltern bei Gericht um einen
„Berechtigungsschein“ für einen Anwalt, blitzen aber ab. „Die haben gesa…
wir sollen mit dem Jugendamt reden“, berichtet Beata C. Doch die
Sachbearbeiterin im Jugendamt gehe seither nicht mehr ans Telefon.
Und dann kommt noch ein Brief vom Gericht: eine Ladung der Eltern für dem
7. Dezember. Beata C. befürchtet nun, es passiere, was die Dame vom
Jugendamt schon vorher angedroht habe. „Wenn wir nicht zustimmen zum
geschlossen Heim, entziehen sie uns das Sorgerecht“.
„Es ist damit zu rechnen, dass die Eltern jetzt stark unter Druck gesetzt
werden“, sagt der Hamburger Familienanwalt Rudolf von Bracken. Eltern
würden häufig nicht über ihre Rechte informiert. Aber nur sie könnten eine
geschlossene Unterbringung beantragen und sie könnten sie beenden. Das
Gericht erteile nur die Erlaubnis für diesen Schritt. Ab dem Moment, in dem
die Eltern den Widerspruch einlegten, sei Alicias Unterbringung in Gauting
heikel. „Das Jugendamt kann das nur fortführen, wenn ihm das
Familiengericht das Sorgerecht überträgt“, sagt von Bracken. „Dafür muss…
sofort einen Eilantrag auf Entzug des Sorgerechts gegen die Eltern
stellen.“ Und den müsse das Gericht eigenständig darauf überprüfen, ob die
Aufhebung der Unterbringung „eine akute, erhebliche Kindeswohlgefährdung
bedeutet“.
Der Hamburger Jugendhilfeexperte Wolfgang Hammer hält Freiheitsentziehung
bei Schulverweigerung für „weder geeignet noch akzeptabel“ – zumal es vi…
geeignetere Programme gebe. Auch von Bracken findet die Unterbringung
„unverhältnismäßig“. Wenn die Eltern diese nun unterbänden, weil sie
fänden, dass sie ihrem Kind nicht helfe, zeigten sie durchaus, dass sie
erziehungsfähig seien.
Der Landkreis Göttingen wollte Fragen der taz zu dem Fall aus Gründen des
Personenschutzes nicht beantworten. Ein Ziel der Jugendhilfe sei es,
Maßnahmen einvernehmlich durchzuführen. „Das ist in diesem Fall gelungen“,
sagte Sprecher Ulrich Lottmann. Eine öffentliche Darlegung gefährde diesen
Erfolg, da sich die Sache in einer „sehr sensiblen Phase“ befinde.
Immerhin haben Beata C. und Stefan K. nun doch noch herausgefunden, dass
ihnen die Kostenübernahme für juristischen Beistand zusteht. Und sie haben
auf die Schnelle eine Anwältin gefunden.
6 Dec 2015
## AUTOREN
Kaija Kutter
## TAGS
Jugendheim
Schule
Sorgerecht
Geschlossene Unterbringung
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kommentar von Kaija Kutter zum Heim-Konzept: Missbrauch Tür und Tor geöffnet
Das Vorhalten von Fesseln in einem Jugendheim stattet die Erzieher mit
einer zu hohen Machtposition aus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.