Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Zirkus!: Handarbeit für Höhepunkte
> Roncalli wagt mit seinem neuen Programm „Good Times“, Langsamkeit als
> Spannungsgenerator zu zelebrieren. Geflogen wird trotzdem.
Bild: Zirkus als die physischste aller szenischen Künste beinhaltet alle Forme…
BREMEN taz | „Wegen Tierquälerei abgesagt“, steht quer über den Plakaten …
Bremer Osterdeich, die eigentlich die Gastspiele des Circus Verona bewerben
sollen. Diese Probleme hat Roncalli nicht, der seine Ponys „alle zwei Tage
auf eine Weide um Toben führt“, wie Zirkus-Sprecherin Angela Weller
versichert.
Damit ist hoffentlich nicht die Bremer Bürgerweide gemeint, auf der
Roncalli derzeit seine Zelte stehen hat. Roncalli hat jedenfalls keine
Probleme mit Plakat-Guerilla-Aktionen von Tierschützern, sondern verbreitet
den Slogan: „Keine Angst vor wilden Tieren – wir haben keine!“. Das ist
eine sehr bewusste Setzung: Als Bernhard Paul seinen Zirkus 1976 gründete,
führte gerade das Fehlen von Wildtieren zu erheblichen Akzeptanz-Problemen
im Publikum.
Heute ist Roncalli einer der ganz wenigen noch wandernden großen
europäischen Zirkusse, und der logistische Aufwand dahinter lässt sich
täglich auf der windüberfegten Bürgerweide bestaunen: 134 Erdnägel, jeder
für sich vier Kilo schwer und einen Meter zwanzig lang, sichern die Zelte
gegen Böen bis zu 150 Stundenkilometern. Fünf Kilometer Kabel haben die
Roncallis verlegt, 10.000 Glühbirnen eingeschraubt und 12 Kubikmeter Lehm
als Manege fest gestampft – plus acht Kubikmeter Sägespäne als Oberschicht.
Das ist die, schon für sich genommen spektakuläre, Basis und Hülle der
zirzensischen Künste.
Roncallis aktuelles Programm, „Good Times“ umfasst fliegende Menschen und
ungeheure Mengen jonglierter Substanzen aller Art – vor allem jedoch
besticht es durch seinen Mut zur Langsamkeit. Lange, lange Minute nimmt
sich Kateryna Zeit zum Soriteren länglicher Objekte, die so aussehen, als
sei die Dinoknochen-Sammlung im nahe gelegenen Überseemuseum geplündert
worden. In Wirklichkeit handelt es sich um meterlange Palmäste, aus denen
in hochangespannter Stille ein phänomenales Horizontal-Mobile entsteht. Auf
der Spitze dieses sanft schwingendes Balance-Gebildes liegt eine
Vogelfeder. Und als Kateryna sie herunter nimmt, klappt das vibrierende
Kunstwerk dominoartig in sich zusammen: ein großer Effekt nach intensiver
Energieansammlung.
Es ist kein Zufall, dass jemand wie André Heller seinen Anteil hat an dem,
was heute als „Roncalli“ bekannt ist. Paul hat sich mit diesem Kompagnon
zwar schon früh überworfen, Hellers poetische Spuren sind dennoch bis heute
im Programm spürbar: Auch Sergi Bukas unprätentiöse Licht-und
Dunkel-Nummern, in denen er mit dem bloßen Schattenspiel seiner Finger
1.500 ZuschauerInnen im Zelt in seinen Bann zieht, stehen für diese
ästhetische Linie.
Erstmals treten in „Good Times“ die drei Paul-Kinder zusammen auf. Sie
haben eine rasante Rollschuh-Performance einstudiert, die in ihrem Habitus
jedoch sehr an die Discoroller-Ästhetik der 80er erinnert. Zwei Jahre lang
habe der Paul-Nachwuchs für diese Nummer heimlich nachts trainiert, heißt
es. „Les Paul“, wie sie sich nennen, nehmen damit eine Tradition der
Artisten-Familie Larible auf, aus der ihre Mutter stammt. In der
poetisch-skurrilisierten Gegenwart oder gar Zukunft eines Zirkus 2.0 sind
sie damit allerdings noch nicht angekommen.
Ein besonderer Genuss jedes Roncalli-Programms ist der Auftritt derjenigen,
die gar nicht wirklich auftreten: die Requisiteure. Die Akkuratesse und
Geschmeidigkeit, mit der diese perfekt getaktete Truppe unter
Oberrequisiteur Peter Weber die Umbauten abwickelt, steht paradigmatisch
für jenes Maß an Professionalität, von der die Zirkuswelt lebt. Als
physischste aller szenischen Künste, völlig unabhängig von Sprache oder
choregrafischer Konzeptualistik, als Kunstgattung, die sich zudem ihre
räumlichen Grundlagen selbst und immer wieder neu erschafft, ist sie ein
Unikum im Kosmos der Ästhetik.
Die Gestalt, die all’ dies fürs Publikum sichtbar personifiziert, ist
übrigens keineswegs Bernhard Paul – sondern Patrick Philadelphia, der
„Sprechstallmeister“, wie man im Zirkus sagt. Landläufig ausgedrückt, tri…
er als Abendregisseur in Direktorenpose auf. Und wenn er mit leicht
überheblicher Lässigkeit die atemberaubendsten Nummern präsentiert, dann
spricht daraus nicht nur die Selbstverständlichkeit eines Menschen, dessen
Familie seit dem frühen 18. Jahrhundert Generation für Generation Zirkus
macht. Sondern eben jenes für Normalmenschen kaum fassbare Maß an clownesk
verpackter körperlicher Leistungsfähigkeit, aus der der Zirkus seine
Einmaligkeit generiert.
9 Dec 2015
## AUTOREN
Henning Bleyl
## TAGS
Zirkus
Wildtiere
Zirkus
Familie
## ARTIKEL ZUM THEMA
Wildtierverbot im Zirkus: Tierfreie Manege
Der Bezirk Steglitz-Zehlendorf will ein Verbot von Wildtieren im Zirkus
durchsetzen. Zirkusbetriebe sorgen sich um den Verbleib der Tiere.
„Shaun das Schaf“ im Kino: Eine Familie als Poesiealbum
„Shaun das Schaf“ macht jetzt weltweit Karriere. Populär wurden seine
Geschichten bei uns in der „Sendung mit der Maus“.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.