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# taz.de -- Flüchtlinge auf Lesbos: Insel der Freiwilligen
> In den Flüchtlingslagern auf Lesbos herrschen Chaos und Not. Helfer tun,
> was sie können. Die EU schaut zu. Und immer wieder kommen neue Boote an.
Bild: Mal spendet jemand Hühnchen, mal andere Lebensmittel: Helfer und Flücht…
Lesbos taz | Salin dreht das bunte Kinderkarussell mit den fünf kleinen
Sitzen, auf dem ihr dreijähriger Sohn Assid Platz genommen hat. Die alten
Eisenstangen knarren, ihr Sohn strahlt über das ganze Gesicht und schaukelt
mit den Beinen. Ringsherum sind lange Leinen gespannt, an denen Kleidung,
bunte Tücher und Decken in der Morgensonne trocknen.
Salin, die Jeans, eine schwarze Jacke und ein schwarzes Kopftuch trägt,
lebt seit einer Woche im Camp „Village all together“ – auch Pikpa genannt…
auf der Insel Lesbos. Mit ihrem Mann und ihren drei Kindern hatte sie sich
von Afghanistan aus auf den Weg über das Meer gemacht. Es habe für sie
keine Wahl gegeben: „Taliban“, sagt sie, „gefährlich“.
Ihr Blick ist noch immer voller Angst. Sie will nach Deutschland, wartet
jetzt auf ihre Papiere, die ihr hier ausgestellt werden. Wie genau sie
weiterreisen werden, weiß sie nicht. Aber in Deutschland hat ihr Sohn eine
Zukunft. Dann ist nur noch Traurigkeit in ihren dunklen Augen. Sie hat nur
noch dieses eine Kind. Die 10-jährigen Zwillinge – ein Junge und ein
Mädchen – sind ertrunken. Das Meer war zu stürmisch, das Boot zu unsicher.
Salin schaut zu Boden. Wieder knarren die Eisenstangen, die Frau gibt dem
Karussell neuen Schwung. Assid lacht.
## Alles wird täglich neu entschieden
Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR sind in diesem Jahr etwa
650.000 Flüchtlinge aus der Türkei über das Meer nach Griechenland
gekommen. Allein im Oktober flüchteten rund 218.400 Menschen – fast so
viele wie im gesamten Vorjahr.
Mehr als 60 Prozent von ihnen stammten aus Syrien. Hunderte der Flüchtlinge
sind bereits ums Leben gekommen. Die Seeroute nach Lesbos ist mit Anbruch
des Herbstwetters sehr gefährlich geworden.
Gegenüber dem Spielplatz steht Effi Lazoudi vor dem hellgelben Hauptgebäude
mit bunten Malereien, auf dem der Satz „Herzlich Willkommen“ auf
Griechisch, Englisch, Arabisch und in Farsi geschrieben steht. Die
47-jährige ist eine der OrganisatorInnen hier. Mit zwei Helferinnen aus der
Schweiz und aus den USA greift sie Säcke voll mit Kleiderspenden, die von
Einheimischen hergebracht wurden.
Per Smartphone koordiniert sie die Hilfe: Wie viele freiwillige Helfer
gehen zur Essensausgabe an den Hafen? Wer bringt Kleiderspenden in die
anderen Camps? Das alles wird täglich neu entschieden. Es gibt keine feste
Struktur und auch keine feste Anzahl an HelferInnen, keine bestimmte Anzahl
an Organisationen.
Seit 2012 besteht das selbstorganisierte Camp für Flüchtlinge hier auf dem
Gelände eines stillgelegten Kinderferienlagers. Es wird von griechischen
und ausländischen Freiwilligen betrieben und finanziert sich ausschließlich
durch Sach- und Geldspenden. Camp Pikpa ist hauptsächlich für Familien
gedacht, die bei der Flucht Angehörige verloren haben. Auch viele
Minderjährige ohne Eltern sind hier, sagt Lazoudi, und Flüchtlinge mit
behinderten Familienmitgliedern – alle, die ganz dringend Ruhe brauchen.
Ihr Camp diene zudem als Ausgangspunkt, um Hilfe in den anderen beiden
Lagern zu organisieren“, berichtet sie weiter. Damit meint sie das von der
griechischen Einsatzpolizei beaufsichtigte Camp Moria und das Camp Kara
Tepe, welches von der Gemeinde Lesbos ins Leben gerufen wurde. Es ist
ausschließlich für syrische Flüchtlinge zur Registrierung bestimmt.
## Syriza-Politiker kamen – und waren überfordert
Besonders in Moria herrsche immer noch Ausnahmezustand. Damit die
Flüchtlinge dort etwas zu essen haben, kochen die Freiwilligen hier in der
Kantinenküche des ehemaligen Ferienlagers täglich Essen und transportieren
es in die anderen Camps und zum Hafen, wo die Flüchtlinge auf das nächste
Schiff warten.
Heute hat ein Spender knapp 50 Hühnchen hergebracht. Diese werden mit Reis
zubereitet, dazu gibt es ein Brot, erzählt Lazidou. 800 einzelne Portionen
werden es sein. „Trotzdem – irgendwann geht uns immer das Essen aus. Die
Reihen zur Speisenausgabe werden immer vor ihrem Ende abgebrochen“, seufzt
sie. Als die linke Syriza-Regierung im Januar die Wahlen gewonnen hat, habe
sie viel mehr erwartet, sagt Lazidou. Immer wieder kamen Politiker zu
Besuch – Premier Alexis Tsipras, die ehemalige Vize-Immigrationsministerin
Tassia Christodoulopoulou. Doch nichts passierte. Die Regierung ist mit der
Situation völlig überfordert.
Aber auch Dinge, die kein Geld erfordern, haben viel zu lange gedauert.
„Bis vor ein paar Wochen zum Beispiel mussten Flüchtlinge, die am Strand im
Norden der Insel ankamen, zu Fuß die 60 bis 70 Kilometer zu den
Registrierungshotspots zurücklegen. „Jetzt endlich wurde das
Beförderungsgesetz geändert, was verbot, illegale Einwanderer zu
transportieren, und so werden seit Ende September Flüchtlinge mit
Shuttlebussen von den Stränden abgeholt“.
Auch gäbe es die Registrierungscamps erst seit knapp zwei Monaten. Die
Menschen lebten davor auf der Straße, an den Stränden und auf Grünflächen.
Lazidou: „Die Situation hat sich zwar verbessert, weil besonders durch die
freiwilligen HelferInnen und unterschiedlichen Solidaritätsgruppen und NGOs
etwas Ordnung ins Chaos gebracht wurde – menschenwürdig ist die Situation
aber noch lange nicht.“
## Wer bekommt das tragischere Foto?
Viele der griechischen HelferInnen kommen vor oder nach ihrer Arbeit
hierher, ausländische Freiwillige opfern ihren Urlaub. Zu den Problemen,
mit denen die Helfer zu kämpfen haben, gehört aber auch, dass manche der
zahlreichen kleineren NGOs verschiedener Nationalität in einem
Konkurrenzkampf zu stehen scheinen: Wer rettet zuerst – wer bekommt das
tragischere Foto? In Mytlini, der Hauptstadt von Lesbos, sitzt Markus
Markmeier in einem Café und wartet auf andere freiwillige Helfer. Gleich
wird hier ein kurzes Meeting der Gruppe Volunteers Coordination Lesbos
stattfinden.
„Die Koordination der einzelnen HelferInnen ist unheimlich wichtig, damit
nicht unnötig Arbeitskraft verschenkt wird und auch dass man keinen mit
seiner Hilfe nervt“, sagt der 18-jährige Saarländer. Die Freiwilligen hier
machen das ja größtenteils nur kurzfristig. Es mangle dadurch an
Kontinuität im Aufbau der einzelnen Organisationsstrukturen.
Markus hat gerade seine Schule beendet, reiste ein Jahr durch Europa und
ist jetzt für zwei Wochen in Griechenland. „Man ist hier eigentlich Mädchen
für alles“. Er gibt Essen aus, unterstützt behinderte Menschen, sucht nach
deren Angehörigen in den Camps oder bringt sie zum Arzt.
Ja, es habe ihn schon wütend gemacht, sagt er, dass er im staatlichen Camp
Moria, welches unter der Aufsicht der griechischen Polizei steht, auch ab
und an als Sicherheitsmann fungieren muss. Teilweise gäbe es Rangeleien bei
der Essensausgabe, denn es reicht nie für alle. Da muss er dann mithelfen,
zu beruhigen. Das alles zu managen, sei ja eigentlich Aufgabe der Regierung
und Europas.
## Getränke, Schokolade, Obst
Das staatliche Camp Moria ist etwa 10 Kilometer von Mitilini entfernt
gelegen. Der ehemalige Gefängnistrakt wird heute als Registrierungshotspot
genutzt. Vor den zwei großen, von Polizisten bewachten Haupteingängen
stehen Verkäufer mit ihren Snackwagen. Sandwiches, Getränke, Schokolade,
Obst, aber auch Schlafsäcke und Klamotten werden hier angeboten. Verkäufer
witterten hier schnell ein Geschäft. Selbst Vodafone ist hier vertreten,
bietet in arabischer Schrift Telefonkarten für 10 Euro an – 1 GB Internet
und 5 Euro für EU-Telefonate.
Hinter den Eingangstoren des Geländes stehen Hunderte Zelte.
Stacheldrahtzaun umringt die Gitter des Registrierungsabschnitts. Jeder
bekommt hier eine Nummer – dann heißt es warten. Das kann teilweise bis zu
über einer Woche dauern. Wer kein Geld hat, bleibt hungrig. Kleidung,
Unterkunft, Nahrung, Wasser – all das ist nicht geregelt und wird allein
durch die Freiwilligen HelferInnen erträglich gemacht.
Auch das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen ist vertreten.
UNHCR-Mitarbeiterin Katerina Kitidi sagt: „Eigentlich ist unsere Hilfe auf
Katastrophengebiete spezialisiert.“ Doch die Zustände seien hier so
schlimm, dass sie nun auch verstärkt in Griechenland arbeiten.
Gegen 7 Uhr Abends treffen die beiden Autos mit der Essensladung aus dem
Camp Pikpa ein. Sofort bildet sich eine Menschentraube. Die freiwilligen
HelferInnen schaffen es, die hungrigen Menschen in zwei Reihen
aufzustellen. 800 Mahlzeiten können sie ausgeben. Weit über 1.500 Menschen
stehen an. Viele von ihnen werden nichts bekommen.
## Am Horizont tauchen wieder drei Boote auf
Am Strand von Skalas Skaminias im Norden der Insel stehen Ärzte,
Rettungsschwimmer und Helfer und winken zwei ankommenden übervollen grauen
Schlauchbooten auf den letzten Metern Mut zu. Rettungsschwimmer Marko aus
Spanien springt ins Wasser, zieht das erste Boot mit zahlreichen
Kleinkindern, Frauen und einigen Männern an Land. Sofort stehen die Ärzte
bereit.
HelferInnen reichen Wärmedecken, frische Kleidung, heiße Getränke. Die
Mitarbeiterin einer dänischen Hilfsorganisation leitet den Weg zum Camp.
Eine ältere Frau aus Syrien sitzt leise weinend auf dem Boden, neben ihr
steht ein junger Mann, der am ganzen Leib zittert. Drei weitere Boote
zeichnen sich am Horizont ab. Die HelferInnen stehen bereit.
13 Nov 2015
## AUTOREN
Theodora Mavropoulos
## TAGS
Lesbos
Griechenland
Schwerpunkt Flucht
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