# taz.de -- „Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Heißer Kopf, kaltes H… | |
> Der erste Satz, den wir auf Deutsch gelernt hatten, war: „Wir sind eine | |
> Familie. Wir sind Schwule.“ Das neue Leben, es kommt in kleinen | |
> Schritten. | |
Bild: Anders sein in Russland wird nicht goutiert: Eine Schwulenparade wurde 20… | |
Nachts um drei im Dezember 2014 auf dem leeren Bahnhof von Gießen: Neben | |
mir sitzt mein wichtigster Mensch auf Erden, er ist heiß, wie ein Ofen und | |
kriegt keine Luft. Ich kann ihm nicht helfen. Gerade sind wir aus einem | |
Flüchtlingslager geworfen worden. Mit den Worten: „Nun lebt ihr in Bad | |
Homburg und habt hier nichts mehr zu suchen.“ | |
Kurz davor war ich mit Sascha aus Russland nach Deutschland geflohen. Wir | |
strandeten in Gießen. In einem umzäunten Lager. Wache, Kontrollen, | |
Alkoholverbot. Trotzdem besoffen sich die Insassen allabendlich und grölten | |
nächtelang Lieder. | |
Das Lager war überfüllt. Mehr als ein Dutzend Menschen übernachteten in | |
einem Zimmer. Die Aufteilung verlief nach religiöser Zugehörigkeit. | |
Sexuelle Orientierung war kein Thema. Der erste Satz, den wir auf Deutsch | |
gelernt hatten, war: „Wir sind eine Familie. Wir sind Schwule.“ Diesmal | |
funktionierte er nicht. Wir wurden in einem Zimmer zusammen mit zwei | |
Flüchtlingen aus Russland untergebracht – Heteros und Muslime. Zum Glück | |
verlief alles friedlich, weil sie genauso wie wir einem Land entflohen | |
waren, wo Menschenrechte nur Luftblasen waren. In solchen Situationen | |
versuchen die Menschen, Gemeinsamkeiten zu entdecken, statt Unterschiede. | |
Aus Erzählungen wussten wir: Es hätte auch anders kommen können. Viele | |
Homos aus Russland werden in Flüchtlingsheimen überfallen oder sogar | |
vergewaltigt. Es gibt welche, die ihre Orientierung verschweigen. Oft | |
rieten Sozialmitarbeiter, unsere Beziehung nicht zu zeigen. Das war unser | |
erster Kulturschock. Wir hatten ja gerade ein Land verlassen, wo man das | |
auch von uns forderte und viele nach unserem Tod lechzten. | |
Der Alltag im Heim war kein Zuckerschlecken. Eine Mensa für 5.000 Bewohner | |
mit Schlangestehen, Rangeleien, Zwist. Gleich am ersten Tag versuchte ich | |
ein paar Frechlinge, die sich vorgedrängt hatten, zurechtzuweisen und wurde | |
daraufhin bedroht. Nachts wurden wir regelmäßig von Feuerwehrsirenen | |
geweckt, weil jemand rauchte oder aus Langeweile Alarm auslöste. | |
Hochschrecken, etwas überziehen, raus auf die Straße. | |
## Der Wächter war unnachgiebig | |
In einer solcher Nacht Anfang Dezember erkältete sich Sascha. Wir hatten | |
gerade die Erlaubnis erhalten, zu einem Anwaltstermin nach Berlin zu | |
fahren, als am Freitag davor, eine halbe Stunde vor Schließung der | |
Verwaltung eine neue Liste ausgehängt von Leuten, die umziehen sollten. | |
Unsere Namen standen darauf. Leider sollte der Transfer an dem Tag sein, wo | |
wir beim Anwalt in Berlin hätten sein sollen. Wir rannten in die | |
Verwaltung. Der Wächter war unnachgiebig. Bis Montag war im Heim alles | |
dicht. | |
Vor Aufregung schnellte Saschas Fieber hoch. Am Wochenende hatte im Lager | |
kein Arzt Dienst. Uns war klar, wenn Sascha ins Krankenhaus käme, würden | |
wir weder den Anwaltstermin schaffen noch den Transfer nach Bad Homburg, so | |
hieß unser Zielort. Ich holte Medikamente in der Stadt und verbrachte das | |
Wochenende damit, die acht Treppen zwischen unserem Zimmer und der winzigen | |
Küche hin und her zu flitzen. Dort stand der einzige Wasserkocher für 1.500 | |
Bewohner. | |
Auf der Rückfahrt aus Berlin hatte Sascha hohes Fieber und redete wirr. Mir | |
war klar, dass er zum Arzt sollte, aber auch dass wir unsere medizinische | |
Versichertenkarten erst nach der Transfer nach Bad Homburg bekommen würden. | |
Todmüde kamen wir im Lager an. Auf unseren Betten schnarchte schon jemand | |
anderes. Wir packten unsere Sachen. Ich bat die Wächter, meinem kranken | |
Freund für ein paar Stunden irgendein Bett zur Verfügung zu stellen, er | |
sagte, das Lager sei nicht mehr zuständig für uns. | |
So landeten wir nachts auf dem Gießener Bahnhof. Um vier bekamen wir | |
Gesellschaft. Eine Frau, die Englisch sprach und uns geduldig zeigte, wie | |
man Tickets am Automaten kauft. Sie bleibt für mich für immer ein Symbol | |
für die offenen und hilfsbereiten Deutschen. Mit jedem Monat unseres | |
Aufenthalts kamen neue solche Menschen hinzu. | |
Gleich am ersten Tag in Bad Homburg bekamen wir Versichertenkarten. Sascha | |
hatte Bronchitis, aber nach ein paar Tagen Behandlung wurde er wieder fit. | |
Mittlerweile sind wir bereits ein Jahr in Deutschland. Aber noch immer | |
warten wir auf den Termin, wo man uns nach den Gründen für unseren | |
Asylantrag befragt. Die Ungewissheit geht mit der Einschränkung unserer | |
Rechte auf Arbeit, auf Wohnung oder auch Arztbesuche einher. Aber wir | |
wissen ganz genau, dass diese Schwierigkeiten nicht von Dauer sein werden. | |
Hauptsache, wir sind dabei, in kleinen Schritten ein neues Leben zu | |
erproben. Eines, wo uns keiner mehr sagen kann, dass wir es nicht wert sind | |
zu leben. | |
Aus dem Russischen übersetzt von Irina Serdyuk | |
7 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Artur Akhmetgaliev | |
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