# taz.de -- Exklusion in der Kita: Lina bleibt zu Hause | |
> In Hamburg verliert ein kleines Mädchen seinen Krippenplatz, als die | |
> Ärzte eine Muskelerkrankung entdecken. Warum? | |
Bild: Alle in der Kita bis auf Lina: Weil das Mädchen eine Muskelerkrankung ha… | |
Hamburg taz | Ein regnerischer Herbsttag. Sabine Wecker sitzt am Esstisch | |
in der Wohnküche ihrer schönen Altonaer Altbauwohnung und erzählt die | |
Geschichte ihrer Tochter Lina. Unten auf dem Spielplatz kennen sie tausend | |
Leute, gleich am Ende des Parks liegt eine Kita. Linas Bruder Tim ist dort | |
betreut worden. Als Lina elf Monate alt war, ging Wecker mit ihrem zweiten | |
Baby zur Eingewöhnung in die dortige Krippe. Ihr Kind sollte jedoch nur | |
drei Monate dort bleiben. | |
Lina entwickelte sich anders als andere Kinder. Mit einem Jahr kann sie | |
weder krabbeln noch laufen. Mit 14 Monaten diagnostizieren die Ärzte eine | |
seltene Muskelerkrankung. Im oberen Schultergürtel und im Gesicht sind sie | |
nicht so stark, wie sie sein sollten. Eine Prognose wagen die Mediziner | |
nicht. | |
Die Eltern sind geschockt, behalten das Mädchen erst mal zu Hause. „Die | |
Erzieherinnen in der Gruppe hatten mitgefiebert, dass das Kind nichts | |
Schlimmes hat“, erinnert sich Sabine Wecker. Man duzte sich, verstand sich | |
gut. Dann, nach vier Tagen, bittet die Kita zum Gespräch. Lina weiter zu | |
betreuen, das könne man nicht leisten. | |
## Nur ein Irrtum? | |
Zu Beginn glauben die Weckers noch, dass das Problem behoben sein würde, | |
wenn sie der Kita eine zusätzliche Betreuungskraft präsentierten. | |
Behinderte Kinder haben in Deutschland bis zum Schulantritt Anspruch auf | |
Frühförderung. In Hamburg verteilt die Stadt Gutscheine für Betreuung, | |
Therapien oder Heilpädagogik, die Eltern bei den Kitas einlösen können. Das | |
hören die Weckers bei einer „Frühförderstelle“ im Viertel. Dort sind | |
Psychologen und Therapeuten, die Familien in dieser Lage unterstützen. Eine | |
Heilpädagogin könnte 15 Stunden in der Woche mit in die Krippe kommen, | |
täglich drei bis vier Stunden. „Wir waren happy und dachten, wir haben eine | |
Lösung“, sagt Sabine Wecker heute. Eine andere Kita kam für die Familie | |
damals nicht in Frage. | |
Doch die Kita geht auf den Vorschlag nicht ein. „Die haben gesagt: Nee, das | |
geht nicht. 15 Stunden sind zu wenig. Nachher fällt Lina um.“ Auch ein | |
neues Angebot der Frühförderstelle lehnt die Kita ab, obwohl Lina rund um | |
die Uhr durch eine externe Erzieherin betreut worden wäre. Die Eltern | |
realisieren: Die Kita sperrt sich, Lina zu betreuen. | |
Die Monate ziehen dahin. Die Mutter hält Kontakt, schaut alle zwei Wochen | |
mit der Kleinen in der Kita vorbei. Doch eine Lösung kommt nicht zustande. | |
Nach einem halben Jahr geben die Weckers auf und kündigten den | |
Kita-Betreuungsvertrag von sich aus. „Wenn man etwas will, sucht man nach | |
einer Lösung. Will man etwas nicht, sucht man Probleme.“ | |
Die Weckers verändern ihre Lebensplanung. Linas Vater Anton legt eine | |
Erziehungspause in der Arbeit ein. Erst mal für ein Jahr, daraus wurden | |
zwei. Er wird Hausmann, kümmert sich um die Kleine, sagt sogar, er fand die | |
Zeit ganz schön. Dafür aber muss die Mutter als Lehrerin Vollzeit arbeiten. | |
„Ich sehe meine Kinder oft nur abends.“ | |
## Rosa Pferdesticker | |
Lina sieht auf den ersten Blick aus wie ein normales Mädchen. Sie läuft, | |
das hat sie dann doch noch mit 16 Monaten gelernt, aber Krabbeln konnte sie | |
nie. Im Kinderzimmer steht eine Vibrationsplatte zum Muskeltraining, auf | |
die Lina sich aufstützen und ihre Oberarmmuskeln trainieren soll. Die | |
Platte ist rundum mit rosa Pferdchen-Stickern beklebt. „Tim hat viele | |
Freundinnen. Wenn die hier sind, spielen die hauptsächlich mit Lina“, | |
erzählt die Mutter ein bisschen stolz. Und auf dem Spielplatz unten im Park | |
hätten sich einige aufgeregt, was das denn soll, dass Lina nicht in die | |
Kita darf. Auch Kinder hätten nach Lina gefragt. | |
Die Krippenzeit hat Lina ausgelassen, aber nun haben die Eltern eine neue | |
Kita gefunden, wo sie ab drei Jahren in eine Gruppe von drei- bis | |
sechsjährigen Kindern kann. Diese Kita hat schon ein Integrationskonzept | |
und Therapeuten und Heilpädagogen im Team. „Die haben uns gesagt, | |
,Muskelschwäche, nie gehört, aber wir kriegen das schon hin‘“, erinnert | |
sich Sabine Wecker. Hat die Kita am Park Angst gehabt, etwas falsch zu | |
machen? | |
Auf Anfrage der taz schickt die Leiterin eine schriftliche Stellungnahme. | |
Man habe nach sorgfältiger Abwägung und fachlicher Beratung, auch durch die | |
Hamburger Behörde, entschieden, dass die Einrichtung als „Regelkita“ diesem | |
Kind nicht die angemessene Betreuung und Förderung bieten konnte. „Wir | |
bedauern insbesondere, dass unser fachlicher Background nicht ausreichte, | |
um dem Kind ein qualifiziertes Betreuungsangebot machen zu können“, heißt | |
es darin. Man habe zu jenem Zeitpunkt jedoch weder eine Konzeption für | |
Inklusion gehabt noch Mitarbeiter mit der nötigen heilpädagogischen | |
Zusatzqualifikation. Die Kita habe aber die Situation als „Impuls“ | |
verstanden, den Schwerpunkt künftig auf Inklusion zu setzen und das Team | |
fachlich zu qualifizieren, um „in absehbarer Zeit offen für möglichst alle | |
Kinder sein zu können“. Das habe man auch versucht, den Eltern zu | |
vermitteln. | |
## Warum wird nicht alles bezahlt? | |
Sabine Wecker beschwichtigt das nicht. „Wann wird es dort denn wieder so | |
einen Fall wie den meiner Tochter geben?“ Die Kinder und auch der Bruder | |
lernten an Linas Fall, dass Andersartige ausgegrenzt werden. Deshalb will | |
sie nicht, dass ihr und Linas richtiger Name in der Zeitung steht. | |
Inklusion müsse heißen, dass eine Kita für die Kinder im Viertel zuständig | |
ist. | |
Doch so weit ist Hamburg offenbar nicht. „Es kann nicht jedes Kind in jede | |
Kita“, sagt Kai Fieguth, Fachberater für Inklusion beim Alternativen | |
Wohlfahrtsverband Soal. Für die über Dreijährigen ist dies in Hamburg klar | |
geregelt. Kinder mit Behinderung bekommen einen Gutschein, von dem nicht | |
nur Betreuung, sondern auch Therapien und Heilpädagogik in der Kita bezahlt | |
werden können. Etwa jede Vierte der über 1.000 Kitas der Stadt hat bereits | |
eine Betriebserlaubnis, um als Integrationskita zu arbeiten. Auch jene, die | |
Lina seit einer Woche besucht. Nötig dafür seien neben räumlichen | |
Voraussetzungen Mitarbeiter mit heilpädagogischer Qualifikation. | |
Für Krippenkinder unter drei Jahren gibt es einen solchen Förder-Gutschein | |
nicht. Im Prinzip kann jede Krippe ein Kind aufnehmen und sich | |
Unterstützung von den in der Stadt verteilten „Frühförderstellen“ holen.… | |
wie es auch die Eltern von Lina versucht haben. Doch dies fällt gut | |
ausgestatteten Kitas leichter. „Mit Frühförderung allein kann man in der | |
Krippe den Alltag nicht bewältigen“, sagt Franziska Larra, | |
Geschäftsführerin von Hamburgs stadteigenem Kita-Träger „Elbkinder“, der | |
über 25.000 Kinder betreut. | |
Das liegt daran, dass die Stadt für ein behindertes Krippenkind weniger | |
Geld zahlt als für ein über dreijähriges Kind. „Man muss dafür Verständn… | |
haben, wenn eine Kita sagt, sie traut sich das nicht zu“, sagt Larra. Die | |
Elbkinder- Kitas haben 20 Jahre Erfahrung mit Integration. Jede Zweite der | |
182 Kitas betreut Kinder mit Behinderung. Der Träger hat eigene | |
Frühförderstellen, Ärzte, Psychologen und einen Therapeutenpool. | |
Die Stadtstaaten seien im Vergleich zu einigen Flächenländern | |
„vorbildlich“, sagt Erziehungswissenschaftlerin Sabine Lingenauber, die an | |
der Hochschule Fulda den Studiengang Frühkindliche inklusive Bildung | |
leitet. Sie kritisiert, dass behinderte Kinder später als andere in eine | |
Kita kommen und so um wichtige Bildungschancen gebracht werden. Linas Fall | |
sei leider kein Einzelfall: „Ein Kind bekommt eine Diagnose, es hat | |
besondere Bedürfnisse, und es kommt zu einer hochgradigen Verunsicherung | |
des Personals.“ Für Eltern sei es oft ein „Spießrutenlauf“, eine Kita zu | |
finden. Das Problem sei die fehlende Qualifikation. „Bis auf Österreich | |
bilden alle unsere Nachbarländer diesen Beruf auf Hochschulniveau aus.“ | |
Erzieher lernten nur etwas über das normal entwickelte Kind. | |
## „Schiefe Argumentation“ | |
Lingenaubers Ansicht nach hätte Lina in der Kita bleiben sollen. „Etwas | |
anderes ist es, wenn ein Kind noch nicht aufgenommen ist. Aber dieses Kind | |
hatte ja einen Betreuungsvertag.“ Diesen nicht einzuhalten, widerspreche | |
der UN Behindertenrechtskonvention. | |
„Die Argumentation der Kita ist schief“, findet auch Viola Kleffel von der | |
Hamburger Landesarbeitsgemeinschaft Eltern für Inklusion. „Bevor das Kind | |
die Diagnose bekam, ging es doch auch drei Monate gut.“ Inklusion, sagt | |
Kleffel, „muss man erleben und erfahren“. Die Angst, etwas falsch zu | |
machen, sei in Deutschland riesig. | |
Hätten die Weckers darauf bestehen können, dass Lina bleibt? Die Hamburger | |
Sozialbehörde antwortet ausweichend. Eine Kündigung sei „nur aus wichtigem | |
Grund zulässig“. Wann der vorliegt, könne „nur anhand der konkreten | |
Umstände des Einzelfalles beurteilt werden“. Juristisch ist der Fall schwer | |
zu bewerten. Formell haben Linas Eltern gekündigt – die Kita aber die | |
Betreuung trotz bestehendem Vertrag verweigert. | |
Freitagmittag. Die erste Woche für Lina in der neuen Kita ist vorbei. Lina | |
ist müde, sie klammert und kuschelt ein bisschen bei der Mutter am Bein, | |
die sie abholen gekommen ist. „Lief super“, sagt Sabine Wecker. „Lina war | |
heute schon den ganzen Vormittag alleine da.“ | |
NaN NaN | |
## AUTOREN | |
Kaija Kutter | |
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Familie | |
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