# taz.de -- Armut, Schnaps und Prostitution: Die Hurdy-Gurdy-Girls | |
> Eine Vorfahrin unserer Autorin floh im 19. Jahrhundert aus dem | |
> Westerwald und wurde Tanzmädchen in den Londoner Saloons. Eine | |
> Spurensuche. | |
Bild: London um 1821. | |
Susanna Schamp war so etwas wie meine Ururgroßtante und sie war in | |
Scholmerbach geboren, genau wie ich, aber gestorben ist sie in Viktoria, | |
Australien. Susanna ist damals nicht freiwillig über die Meere gefahren, um | |
in den Saloons der Goldgräber zu tanzen, aber es scheint, als hätte sie | |
dort ihr Glück gemacht. Sie hätte genauso gut tot sein können und von Jack | |
the Ripper aufgeschlitzt in den Straßen von Whitechapel liegen können. | |
Aber sie hat überlebt und das ist viel, was man von den Menschen aus meiner | |
Heimat sagen kann. Im 19. Jahrhundert herrschten überall verheerende | |
Hungersnöte und in den Dörfern starben die Leute an allem, was es gab, | |
außer an der Beulenpest. „Hier im Westerwald“, sagten die Alten, „da gab… | |
nichts, nichts und naut, garnaut, garnaut, wir waren nichts, wir hatten | |
nichts, nur Armutei und Säuerei“. Es war mir immer vorgekommen, als wären | |
meine Ahnen aus einem schwarzen Abgrund hervorgekrochen und das Garnichts | |
interessierte mich. | |
So setzte ich mich in die Kirchenarchive von Limburg an der Lahn, – sie | |
liegen praktisch unter der goldenen Badewanne eines unrühmlichen Bischofs – | |
und las auf den fleckigen Papieren mit steiler Sütterlinschrift von den | |
Tagelöhnern und Dienstmägden, Schäfern, Schneidern, Zimmerleuten, Soldaten, | |
Wirtsleuten und vor allem Leuten des Bauernstandes katholischer Konfession. | |
Viele „Weibspersonen“, die als Dienstmägde nach Koblenz, Metternich oder | |
Essen gingen, kehrten als ledige Mütter zurück und starben unmittelbar | |
darauf mitsamt den vaterlosen Kindern. | |
Mit so viel seltsamen Toden hatte ich nicht gerechnet, doch nicht in | |
Scholmerbach. Was hatten sie denn mit den Frauen und Kindern gemacht, sie | |
in Brunnen geworfen oder in Ställe gesperrt und umkommen lassen? Ich war | |
von dieser Entdeckung noch einigermaßen benommen, da fand ich auf einmal | |
Susanna Schamp, geboren 1829 in Scholmerbach, geheiratet 1852 in London, | |
1891 verstorben in Australien. | |
Ich musste daran denken, wie einmal der Feuerwehrmann bei der 50-Jahrfeier | |
vorlas, früher seien die Leute so arm gewesen, da haben sie ihre Kinder | |
fahrenden Leuten mitgegeben und viele davon kehrten nie wieder. Ich las | |
weiter: Susanna, Susannah, vierzehn Geschwister, sieben gestorben, tote | |
Mutter, Stiefmutter, tote Stiefmutter, ein mit so dürren Lettern | |
eingekrakelter Vater „Pfillip“, dass ich förmlich sein schief stürzendes, | |
tintenfarbenes Gerippe sehe, ein Säufer. Ich weiß das, denn alle meine | |
Vorfahren waren schließlich Säufer. | |
## Dreimal am Tag Branntwein | |
Kein Umstand wird so unumwunden, so ausführlich in den | |
sozialgeschichtlichen Abhandlungen beschrieben, als dass meine | |
Urururgroßväter morgens Branntwein tranken, mittags Branntwein und in der | |
Wirtschaft am Abend noch mal Branntwein. Ich stellte mir vor, wie sie | |
hungerkrank mit hervorstehenden Knochen, brennenden Gedärmen und ihren | |
roten, bäuerlichen Wangen durch ihre Leben torkelten und in den | |
Straßengraben fielen, wo sie elendiglich umkamen. Priester, Gendarmen und | |
Herzog Adolph von Weilburg kämpften gleichermaßen gegen die | |
„Branntweinpest“ mit Sperrstunden und Mäßigkeitsvereinen. | |
Aber meine Urgroßmutter sagte: Himmel und Erde werden vergehen, niemals | |
aber der Suff und der Suff. Durch Schwindsucht, Scharlach und Nervenfieber, | |
Kartoffelfäule und Missernten wurden die Kirchhöfe so voll, dass man die | |
Toten nur noch höchst kraftlos und unordentlich begrub. Nach dem | |
Frostwinter um 1847 beschwerte sich Pfarrer Hölper beim Bischof von | |
Limburg, dass beim Tauwetter die Knochen aus den Gräbern geschwemmt wurden | |
und niemand mehr wusste, wem denn nun dieser Arm oder jenes Bein gehörte, | |
überhaupt müsse man die lieben Verstorbenen viel zu früh aus den Gräbern | |
reißen, um den neuen Toten Platz zu machen, man brauche also einen größeren | |
Kirchhof. | |
In dieser Zeit also wuchs Susanna heran und war eine der vielen „Jungfern“, | |
wie sie der Landarzt beschrieb: ohne rechten Wuchs, mit schleppendem Gang, | |
schiefen Schultern, bleichen Wangen, grindigen Mündern und aufgerissenen | |
Lippen. Militärärzte beschwerten sich allenthalben, keine Soldaten mehr | |
ausheben zu können, da die jungen Männer von schlechter Statur waren mit | |
Trichterbrust, von Furunkeln übersät, zu schwach um ein Gewehr zu heben. | |
Nichtsdestoweniger stürzten sich die bleichen Jungfern auf die | |
hohlbrüstigen Hungerleider, um auf Viehmärkten und Kirmessen zu tanzen, | |
begierig nach Vergnügungen. Fahrende Händler mit ihren Besen, Papierblumen, | |
Mückensalben, Zinkwaren und Heiligenbildchen waren die Attraktion und | |
erzählten schauerliche und aufregende und immer neue Geschichten, zogen sie | |
doch aus der Wetterau oberhalb Frankfurts durch den Westerwald bis nach | |
Siegen und Essen oder auf der Köln-Leipziger Straße nach Sachsen, | |
schließlich nach Holland, Frankreich und England. | |
## Mägde, die auf der Drehleier spielen | |
Schon früh hatten Wetterauer Händler sich Knaben verdungen, die ab etwa 14 | |
Jahren mitreisten, um den Esel zu führen oder in der Nacht unterwegs | |
Papierblumen aus Pergament zu drehen, die auf den Märkten verkauft wurden. | |
Als aber die Händler merkten, dass sie ihre Waren viel besser verkaufen | |
konnten, wenn Mädchen in ihren Trachten dazu hessische Tänze aufführten, | |
begannen sie auf den Dörfern überall minderjährige „Mägde“ anzuwerben, … | |
für sie tanzten oder auf der Drehleier spielten. | |
Wann Susannah Schamp zum ersten Mal mit den Händlern mitging, lässt sich | |
nicht sagen. Im Jahr 1847 taucht sie aber in den Passagierlisten von | |
Rotterdam nach Dover auf, gemeinsam mit ihrer Schwester Margueritta, | |
eingetragen als „Musicians“, da war sie siebzehn Jahre alt. | |
Im viktorianischen London herrschte eine Enge in den Armutsvierteln, | |
Immigranten aus Irlands Hungersnöten und russische Juden drängten sich auf | |
den Straßen, in den Lodginghäusern wurde ein halbes Bett in drei Schichten | |
täglich vermietet. Die offenen Aborte und eine kotschwere Themse | |
verursachten eine Fliegenpest. | |
Die Wetterauer Händler aber banden aufgelesene, schmutzige Hühnerfedern von | |
ihren Hungerhöfen daheim an Weidenstöcke und geboren war der | |
„Fliegenwedel“: „A big one for the Lady – A little one for the baby!“ | |
Die Fliegenwedel wurden zum größten Verkaufsschlager, man riss sie den | |
tanzenden, hessischen Mädchen nur so aus den Händen. Plötzlich klingelten | |
die Cent und Schillinge in ihren Taschen. Wenn sie nun nach der von März | |
bis November dauernden Reise in die Dörfer zurückkehrten, trugen sie neue | |
bunte Kleider und Kapotthütchen, brachten Zuckerwaren und zahlten mal eben | |
den Wucherern die Hypothek auf das Elternhaus ab. Sie brachten aber auch | |
einiges andere mit: fremde Flüche wie „Sacre Bleu“ oder „Goddamn“, man… | |
von ihnen waren frech und liederlich geworden, tranken Branntwein, | |
schwatzten den ganzen Tag und waren sich fortan zu schade für die | |
Stallarbeit. | |
## Lotterleben und sittlicher Verfall | |
Den Priestern, Schultheißen und Gendarmen war die „Umherzieherei“ der | |
Mädchen ein Dorn im Auge und man fürchtete ihren sittlichen Verfall. Der | |
Zweifel um die Herkunft ihrer prächtigen Kleider durch ein gewisses | |
Lotterleben im Ausland war gesetzt. | |
Schließlich wurde bei jedem Mädchen oder Knaben ein „Contract“ aufgesetzt, | |
in der sich Schultheiß, Vater und Händler im Wirtshaus trafen und das Kind | |
„veraccordieret“ wurde, um etwa mit „dem Händler Peter Sänger aus Müns… | |
für 30 Gulden + ein Paar Schuhe + ein Kittel musizierend nach Frankreich zu | |
gehen. Auf 14 Tage krank liegend werden keine Abzüge gemacht“. | |
Doch allen Bemühungen der Obrigkeit zum Trotz nahm der Kinderhandel oder | |
vielmehr der Kindermiethandel zu: Die singenden und musizierenden | |
Halbwüchsigen, meist ab 14 Jahren, zogen nun mit ihren „Herren“ durch ganz | |
Europa, von Rotterdam hinauf bis nach Finnland und von dort nach Sankt | |
Petersburg, der rauschenden und prächtigen Zarenstadt mit nicht weniger als | |
97 Bordellen. Die Knaben spielten Quetschkommode in den russischen | |
Hurenhäusern, die Mädchen bettelten und tanzten und schlichen sich in die | |
Herzen wohlhabender Damen, die Mitleid hatten mit den „armen, teutschen | |
Kindern“. Fern der Heimat und fern der elterlichen Aufsicht wurden die | |
Kinder oft geschlagen und misshandelt, und man nannte sie in ganz Europa | |
„The German Slaves“ oder „Les Esclaves d’Allemagne“. | |
Die Drehleiermädchen in ihren geschnürten Leibchen, mit ihren | |
„Rhinelander“-Tänzen und dem zarten Ruch von Verwahrlosung erweckten | |
offenbar auf allen Jahrmärkten ähnliche Begehrlichkeiten und riefen | |
gewiefte Mädchenhändler auf den Plan. Der Übergang zur Prostitution war | |
fließend. Man nannte die Mädchen frei nach ihrem Instrument | |
„Hurdy-Gurdy-Girls“ und ließ sie in den Londoner Hafenkneipen als | |
Attraktion des Abends tanzen: „German Hurdy-Gurdy-Girls are coming to | |
town!“ | |
## Wie Südstaatenköniginnen | |
Susanna Schamp und ihre Schwester Margueritta sind 1850 registriert als | |
wohnhaft in Whitechapel, damals Bakerstreet. Margueritta blieb bis 1880, | |
noch während der Zeit, als dort Jack the Ripper sein Unwesen trieb und wo | |
man noch heute das „Ten Bells“ findet, in der die elenden Huren ihre Freier | |
fanden. | |
In den Hafenkneipen tummelten sich die Seefahrer aus aller Welt, sie | |
brachten Gewürze aus Sansibar und Seidenstoffe aus China, und Tabak aus | |
Kolumbien. Vor allem aber brachten sie die Kunde vom Goldrausch in die | |
vernebelten Köpfe der Tanzsäle wie dem „Old Rose“. | |
Es zog sie nach Colorado, zum Klondike River oder nach Viktoria. Die | |
Hurdy-Gurdy-Girls segelten mit den Goldsuchern über die Meere und tanzten | |
in der Saloons, gekleidet wie Südstaatenköniginnen in prächtigen | |
Krinolinenkleidern. | |
Susanna fand in Australien ihr Glück mit dem Minenarbeiter John Henry | |
Strack. Ihre zahlreichen Nachkommen leben noch heute dort und in | |
Neuseeland. Andere Mädchen kehrten nach Hause zurück, gebrochen und krank, | |
andere verschwanden wie Margueritta in den Armutsvierteln von London. | |
21 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Annegret Held | |
## TAGS | |
19. Jahrhundert | |
Schwerpunkt Armut | |
Prostitution | |
London | |
Neu im Kino | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kinokrimi „The Limehouse Golem“: Serienmord im Kleinkunstkosmos | |
Im Theatermilieu des viktorianischen London geht ein Mörder um. „The | |
Limehouse Golem“ ist camp und blutig. Karl Marx schaut auch vorbei. |