| # taz.de -- Freie Entfaltung: „Mich interessiert, wie kreativ die Natur ist“ | |
| > Marianne Greve studierte Biologie – und wurde dann doch Künstlerin. Bei | |
| > der Entstehung ihrer Kunstwerke räumt sie Zufällen ein | |
| > Mitbestimmungsrecht ein. | |
| Bild: Künstler eröffnen immer neue Sichtweisen: Marianne Greve. | |
| taz: Frau Greve, warum sind Sie nicht Biologin geblieben? | |
| Marianne Greve: Weil schon immer zwei Seelen in meiner Brust waren: die der | |
| Künstlerin und die der Biologin. | |
| Nach Vancouver sind Sie Anfang der 1980er-Jahre aber nicht wegen der Kunst | |
| gegangen. | |
| Vordergründig nicht, aber es gehörte immer dazu. Als zu Beginn meines | |
| Aufenthaltes auf dem Gelände der Universität von British Columbia ein | |
| Totempfahl aufgestellt wurde, habe ich einen Super-8-Film gedreht. So bin | |
| ich mit den Kwakiutl- und Haida-Indianern in Kontakt gekommen und wurde in | |
| deren Reservat eingeladen. Mich interessierte ihre schwierige soziale | |
| Situation und ihr Naturverständnis. | |
| Inwiefern? | |
| Weil sie sich mit der Natur damals noch eins fühlten. Sie entnahmen ihr | |
| nur, was sie unbedingt brauchten. | |
| Inzwischen haben Sie eigene Kiefern-Totems. Sind das spirituelle | |
| Gegenstände? | |
| Nein. Totempfähle werden aus einem speziell ausgewählten, gefällten und | |
| bearbeiteten Stamm zum Kultobjekt. Meine Kiefernstämme mit ihren | |
| Fischgrätkerbungen dagegen gehen auf eine Kulturtechnik zurück, die in der | |
| Ex-DDR zur Gewinnung von Collophonium benutzt wurde. Man ritzte lebende | |
| Stämme, um an ihr Harz zu kommen. Gesehen habe ich sie in Bleckede in einem | |
| Wald auf der anderen Elbseite. Die Fischgrätmuster haben mich sofort | |
| fasziniert. Ich habe sie fotografiert und die Bilder unter dem Titel | |
| „Lachten“ ausgestellt. Gegen Ende meines Stipendiums hat mir der Förster | |
| drei Stammabschnitte geschenkt, die ich in einer Ausstellung über Kunst und | |
| Wunderkammer gezeigt habe. Heute stehen sie im Botanischen Museum Hamburg. | |
| Ihr „Eine-Erde-Altar“ in Schneverdingen ist auch eine Art Wunderkammer. | |
| Wozu ist die gut? | |
| Ja, obwohl ich diesen Auftrag im Zuge der Expo 2000 erst gar nicht annehmen | |
| wollte. Ich bin ja keine Malerin, die einen mittelalterlichen Altar mit | |
| Gold und Heiligenbildern schaffen kann und will. | |
| Aber Sie sollten ja keinen mittelalterlichen Altar bauen. | |
| Nein. Und nach einer Weile habe ich mich entschlossen, auf Grundlage meiner | |
| seit 1983 gesammelten „Erdbibliothek“ – einer Art Reisetagebuch mit Erden | |
| in Plexiglas-Büchern – einen Altar zu bauen. Das Thema „Buch“ lag nahe, | |
| denn das älteste Buch ist die Bibel und das längste Gedächtnis hat die | |
| Erde. | |
| Woher kommen die Erden im Altar? | |
| Aus aller Welt. Von Institutionen ebenso wie von heiligen Orten, allen | |
| Religionen und Menschen, die sich mit der dazugehörigen Geschichte | |
| beteiligen möchten. Denn zu jedem Erdbuch gibt es eine Legende mit Angaben | |
| zu Fundort und der Bedeutung für den Spender, die auch im Internet abrufbar | |
| ist. Die befüllten Bücher werden dann in den Altar eingestellt. | |
| Gibt es auch Erde von verseuchten, sogar „bösen“ Orten? | |
| Ja. Der Altar enthält Erde von Orten, an denen Naturkatastrophen | |
| stattfanden, aber auch aus dem KZ Auschwitz und von anderen „Mord-Orten“. | |
| Aber was soll das Böse an einem heiligen Ort? | |
| Ist die Kreuzigung gut? Auch in der Bibel stehen keine | |
| Wellness-Geschichten. Außerdem glaube ich, eine Wunde kann sich nur | |
| schließen, wenn man sie benennt. Dieser Altar enthält viele erschütternde | |
| Geschichten. Eine Mutter hat Erde des Ortes eingestellt, an dem ihre | |
| Tochter ermordet wurde. Viele empfinden es als Trost, mit ihrer Erfahrung | |
| angenommen zu werden. | |
| Ist es ein Trost, wenn die Erde des Nazi-Wachturms neben der eines | |
| KZ-Krematoriums steht? | |
| Ich denke schon. Es ist ja kein Begräbnis-, sondern ein Loslass-Ort, und | |
| das hat auch mit Verzeihenkönnen zu tun. Und wer Erde herbringt, ist dazu | |
| wohl bereit. | |
| Wie sortieren Sie die Bücher? | |
| Ich habe eine Zufallsverteilung errechnet, damit sich der Altar gleichmäßig | |
| füllt und nicht stur von unten nach oben beziehungsweise von links nach | |
| rechts. Inzwischen stehen dort 5.500 Bücher. 1.500 fehlen noch. | |
| Bei 7.000 ist Schluss? | |
| Ja. Die Zahl 7.000 geht auf die Schöpfungsgeschichte in der Bibel zurück. | |
| „Ein Tag war wie 1.000 Jahre“ steht dort, und „Die Schöpfung währte sie… | |
| Tage“. Das macht 7.000. | |
| Ist es eines Künstlers würdig, sich einer so strengen Zahlensymbolik zu | |
| unterwerfen? | |
| Künstler eröffnen immer neue Sichtweisen, Erfahrungen. Das Systematisieren | |
| und Strukturieren ist eine meiner wichtigsten Arbeitsmethoden. | |
| Aber das ist keine Freiheit. | |
| Doch, es ist die absolute Freiheit. Hinzu kommt, dass durch die | |
| Zufallsverteilung niemand den Platz in der Mitte reservieren oder selbst | |
| bestimmen kann, wo sein Erdbuch platziert wird. | |
| Aber hat mal ein Muslim gesagt, seine Erde solle nicht neben der eines | |
| Juden stehen? | |
| Nein. Allerdings gab es anfangs von christlicher Seite Berührungsängste. | |
| Als Muslime, Buddhisten und die Vertreter anderer Religionen eingeladen | |
| wurden, Erde mitzubringen, gab es Diskussionen darüber, ob ein Muslim den | |
| christlich geweihten Altarbereich betreten dürfe. | |
| Wie ging es aus? | |
| Er durfte. | |
| Irgendwann ist der Altar „voll“. Dann müssen Sie Menschen abweisen. | |
| So ist es vorgesehen, auch unser Leben ist begrenzt. Aber die Bücher und | |
| Legenden sind ja weiterhin zugänglich. | |
| In Ihrem Atelier steht ein Tisch mit Tellern, auf denen Heukugeln liegen. | |
| Warum? | |
| Unter diesen Heuhonigkugeln sind Lautsprecher, die Gesprächsfetzen und | |
| Essgeräusche von sich geben. Es geht dabei um Kunst als Speise – die so | |
| leicht dann doch nicht zu verspeisen ist. Denn die Heuhonigkugeln kann man | |
| nicht essen und an dem hohen Tisch nicht sitzen. Es ist eine Partitur für | |
| 14 Gedecke. | |
| Ihre „Elbesinfonie“ dagegen ist eine „echte“ Partitur. Oder geht es gar | |
| nicht um Musik? | |
| Doch. Es geht um die Verbindung. Darum, wissenschaftliche Werte zu einer | |
| poetischen Erfahrung zu machen. Ich habe mir ein Jahr lang | |
| Wassertemperatur, Sauerstoff-, Nitrit- und Nitratgehalt dreier Elbstandorte | |
| geben lassen – aus Geesthacht, dem Hamburger Hafen und aus Wedel. Ich | |
| konnte also die Reise des Wassers in den Hafen und von dort in die Nordsee | |
| verfolgen. Diese Werte habe ich auf das Notensystem umgerechnet und so | |
| instrumentiert, wie es mir passend erschien. Den Sauerstoff spielte zum | |
| Beispiel die Flöte, das Nitrat das Saxofon. | |
| Ein steigender Wert wurde zur aufsteigenden Melodie? | |
| Ja. Außerdem habe ich aus den Werten eine Sinfonie erstellt, bei der jeder | |
| der drei Sätze für einen Standort steht. Deren anfängliche Dissonanz mündet | |
| in eine große Harmonie und zerfällt wieder in Wellenbewegungen. | |
| Wollten Sie davor warnen, dass die Elbe erstickte? | |
| Nein. Mich interessiert eher, wie kreativ die Natur ist – nur hört man es | |
| oft nicht. In dieser Sinfonie wird das sonst Unhörbare hörbar – als | |
| „Urmusik“, die allem inhärent ist. | |
| Auch Einzellern? | |
| Ja. Vorerst habe ich aber Stachelbeerquallen, Hummerlarven und | |
| Salinenkrebse eine „Plank-Ton-Melodie“ schreiben lassen. Und die | |
| Metamorphose von Kaulquappen habe ich für Klavier und Orgel umgesetzt. | |
| Die Tiere komponieren? | |
| Ja. Ich fotografiere in regelmäßigen Abständen, wie sich die Tiere in | |
| wassergefüllten Plexiglasbehältern bewegen. Hinter den Behältern liegt ein | |
| Notenblatt, und die Tiere werden die Noten. Diese Fotos verbinde ich dann | |
| zu einem Leporello. | |
| Das Unhörbare hörbar machen: Sollte man der Natur das letzte Geheimnis | |
| entreißen? | |
| Es ist kein Geheimnis. Es ist uns ja zugänglich. Wir sind uns dessen nur | |
| nicht bewusst. | |
| 23 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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