| # taz.de -- Textile Gestalten: Was der Welt verhaftet bleibt | |
| > Der Künstler Reinhold Engberding häkelt Hüllen aus Baumwolle und | |
| > überzieht sie mit Wachs und Schelllack: Sie wirken wie riesige Kokons. | |
| Bild: Ein gehäkelter Hängekokon von Engberding. | |
| Manche Arbeiten des Hamburger Künstlers Reinhold Engberding sehen aus, als | |
| hätten Insekten sie hinterlassen. So etwa die titellosen schwarzen Kokons, | |
| von denen einige zurzeit in der Bremer Galerie Kramer zu sehen sind. Wie | |
| ein Insekt arbeitet Engberding beständig seit mehr als zehn Jahren an | |
| diesen seltsamen unheimlichen Gebilden. | |
| Beinahe bedrohlich hängen sie von den Decken der Ausstellungsräume. Die aus | |
| Baumwolle gehäkelten und mit Wachs und Schellack überzogenen Hüllen sind | |
| abstrakt und stellen nicht direkt etwas dar, was wir konkret benennen | |
| könnten. Sie sind nicht festgelegt und ihre Deutung ist uns überlassen. | |
| Bei jeglicher Abstraktion jedoch bleibt ein jedes Kunstwerk doch immer der | |
| uns bekannten Welt verhaften. Unserer Wahrnehmung geht es dabei genauso. | |
| Und so denkt man bei der Betrachtung von Engberdings Hängeobjekten an | |
| Dinge, die man kennt: an Spinnennester etwa. Bloß sind die natürlich sehr | |
| viel kleiner. Vielleicht also an Nester von ausgesprochen großen Spinnen. | |
| Schön ist das sicher nicht, was hier zu schlüpfen droht. | |
| Insekten könnten natürlich niemals Künstler sein. Auch dann nicht, wenn sie | |
| ästhetisch interessante Dinge herstellen. Dinge wie zum Beispiel | |
| Spinnennetze oder Schmetterlingskokons. | |
| Kunst setzt ein Bewusstsein darüber voraus, was man da tut. Und auch | |
| unbewusste Handlungen sind in diesem Sinne zu verstehen. Instinkt aber ist | |
| definitiv etwas anderes als Bewusstsein. Instinkt macht keine Kunst. | |
| Wo Instinkt ist, gibt es den Zwang zur Handlung, niemals jedoch eine | |
| Entscheidung. Was aber quasi automatisch von Tieren hergestellt wird, kann | |
| von Menschen in den Bereich der Kunst überführt werden. Oder auch die Tiere | |
| selbst. So wie der Bienenstock, den Pierre Hugh auf der vergangenen | |
| Documenta im Freien nebst einer alten Skulptur ausstellte: Er ist Kunst | |
| gewordene Natur. | |
| Die gehäkelten Skulpturen von Reinhold Engberding erinnern indes nicht bloß | |
| an etwas von Insekten gemachtes. Den künstlerischen Herstellungsprozess hat | |
| man sich gleichsam insektenhaft vorzustellen. Emsig Stoffhüllen zu häkeln, | |
| ist ein automatischer Vorgang. Äußerst triebhaft –und dadurch wiederum | |
| semi-animalisch. | |
| Bereits der Maler Wols hatte von sich behauptet: „Ich bin eine Termite.“ | |
| Tatsächlich erinnern seine Tuschezeichnungen an den Fraß von Insekten. | |
| In der Tat verwendet Engberding, der 1954 im westfälischen Herten geboren | |
| wurde, auch die Stoffe von Insekten für seine Arbeiten. Schellack, mit dem | |
| er die äußere Hülle seiner Kokons verstärkt und zum Glänzen bringt, ist die | |
| Ausscheidung von Läusen. | |
| Von 2007 und 2008 stammt seine Serie orangefarbener Porträtzeichnungen auf | |
| Glas. Ihr Titel ist „Is this my son?“. Diese lasierende helle Flüssigkeit | |
| ist ebenfalls Schellack. Die in sparsamen Flächen aufgetragenen Portraits | |
| zeigen junge Männer. Bei manchen ist ein nackter Oberkörper zu erkennen, | |
| manche haben den Kopf zurückgelegt oder die Augen geschlossen. Es scheint, | |
| als verschwämmen sie in Lust. Ein Sohn des Künstlers wird hier indessen | |
| nicht gezeigt. Die Bildvorlagen hat Engberding in Schwulenpornos gefunden. | |
| Ein ähnlich anmutender Humor findet sich in den Texten des vielseitigen | |
| Künstlers. Als „Holger B. Niddengreen“ – eine Inversion seines bürgerli… | |
| Namens – schreibt er Gedichte wie dieses: | |
| „Meine Liebe – hast du jemals über/ | |
| einen kalten und schnellen/ | |
| Liebeshandel mit einem Abfalleimer nachgedacht?/ | |
| Viele Eimer und viel Güsse später sitze/ | |
| ich abseits und unterhalb meines glühendheißen Versandkäfigs – ich/ | |
| lächle.“ | |
| „Dallas“ ist der Titel dieses kurzen lyrischen Textes aus dem Jahr 2011. | |
| Engberding war in den letzten Jahren immer wieder zu Stipendienaufenthalten | |
| in den USA. Das Gedicht hat er auf getragene Herrenhosen gestickt. | |
| Reinhold Engberding hat erst mit 40 Jahren an der Kieler | |
| Muthesius-Hochschule sein Kunststudium abgeschlossen. Zunächst studierte er | |
| ab 1976 Landschaftsarchitektur in Kassel bei Lucius Burkhardt. | |
| Der Schweizer Soziologe war der Begründer der Promenadologie – der | |
| Spaziergangswissenschaft. Burkhardt erschien der Spaziergang als zweckfreie | |
| Form der Fortbewegung geeignet, die ästhetische und soziale Wahrnehmung zu | |
| verändern. Beim Spazierengehen, so seine Idee, würde der Blick für die | |
| Umgebung freier sein, als es bei zweckgebundener Fortbewegung der Fall ist. | |
| Man käme so auf ungewöhnliche neue Gedanken und nähme auch die Umgebung | |
| anders wahr. Hieraus könnte man neue Ansätze zur Gestaltung dieser Umgebung | |
| entwickeln, so Burkhardt. 2003 verstarb er in Basel. Seine Witwe überließ | |
| Engberding seine Anzüge. Er solle etwas Künstlerisches daraus machen. | |
| 2011 waren seine Altkleiderskulpturen im Bremer Gerhard Marcks Haus zu | |
| sehen. Thema der Ausstellung war textile Bildhauerei. Engberding hatte | |
| Burkhardts alte Jacketts auf links gedreht und ausgestopft. Die Ärmel waren | |
| dabei nach unten verdreht. Die daraus entstandenen Jackenwesen schienen | |
| somit auf ihren Armen zu laufen. | |
| „Laufen für Lucius Burkhardt“ ist der Titel der Arbeit. Sie ist | |
| unzweifelhaft eine Reminiszenz an dem Mann, der nicht nur sein Professor, | |
| sondern auch ein Freund war. Eine Reminiszenz auch an die von ihm erfundene | |
| Wissenschaft. Einen obszönen Anteil hat diese Arbeit auch: auf dem nach | |
| außen gekrempelten Innenfutter prangen die Schweißflecken des | |
| verstorbenen Wissenschaftlers. | |
| In derselben Bremer Ausstellung zeigte Engberding eine weitere Arbeit aus | |
| alter Kleidung. Der rätselhafte Titel: „Saturn verschlingt seinen Sohn“. | |
| Auf dem Boden lagen zusammengerollt im Rudel Herrenhosen. Sie bildeten eine | |
| lange Reihe und zeigten alle in dieselbe Richtung, wie Muslime beim Beten | |
| in einer Moschee. Woran die Hosen außerdem noch erinnern, sind Maden oder | |
| Würmer. Möglich, dass sie auch mit den monströsen Insektenkokons | |
| zusammenhängen. | |
| 14 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Radek Krolczyk | |
| ## TAGS | |
| Kolonialgeschichte | |
| taz.gazete | |
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