# taz.de -- Forschung zu Antijudaismus: Der ewige Sündenbock | |
> Drei neue Bücher untersuchen Antijudaismus und Antisemitismus. Die | |
> Autoren setzen jeweils eigene Schwerpunkte. | |
Bild: Kippa-Flashmob: Demonstration für mehr Solidarität mit Juden in Hannove… | |
Seitdem im vergangenen Sommer aus Protest gegen das Vorgehen des | |
israelischen Militärs in Gaza auf deutschen Straßen wieder hasserfüllte | |
antisemitische Parolen skandiert wurden und als später die Bundesregierung | |
Schwierigkeiten hatte, jüdische Mitglieder in eine Kommission zur | |
Erforschung von Antisemitismus zu entsenden, ist Judenhass wieder ein viel | |
diskutiertes Thema. | |
Zum besseren Verständnis leistet die Wissenschaft wertvolle Hilfe: Im | |
letzten und in diesem Jahr sind drei neue Standardwerke auf Deutsch | |
erschienen, die den Ursachen und Folgen dieses menschenverachtenden | |
Phänomens nachgehen. | |
Während der US-amerikanische Mediävist David Nirenberg um den Nachweis | |
bemüht ist, dass „Antijudaismus“, den er bewusst vom „Antisemitismus“ | |
unterscheidet, eine, wenn nicht die Grundströmung westlichen Denkens ist, | |
geht es der Historikerin Susanne Wein in einem magistralen Werk um | |
„Antisemitismus im Reichstag“, um „Judenfeindliche Sprache in Politik und | |
Gesellschaft der Weimarer Republik“. | |
Schließlich wird in dem von den Kulturwissenschaftlern Hans Joachim Hahn | |
und Olaf Kistenmacher herausgegebenen Band „Beschreibungsversuche der | |
Judenfeindschaft“ die Antisemitismusforschung selbstreflexiv, in dem sie | |
ihre Geschichte erforscht. | |
Während Susanne Weins ebenso umfangreiche wie packend geschriebene Studie | |
nicht weniger als ein Handbuch zur Geschichte des gescheiterten Weimarer | |
Parlaments darstellt, will Nirenberg in seinem viel beachteten Buch | |
nachweisen, dass die grundlegenden Kategorien nicht nur des westlichen, | |
sondern auch des islamischen politischen Denkens von einer Semantik | |
bestimmt sind, in der „das Jüdische“ im Zentrum steht. | |
Dabei hat der Autor in der Sache selbst kaum Neues zu bieten. Der | |
Anmerkungsteil zu seinem Buch beweist freilich, dass er zum Thema beinahe | |
alles, was die bisherige Forschung von der Antike bis zu Josef Goebbels | |
gefunden hat, kennt und sachkundig referiert. Indem er sorgsam nicht von | |
Judenhass, sondern eben von „Antijudaismus“ schreibt, will er letztlich | |
nachweisen, dass und wie begriffliche Dichotomien der späten Antike die | |
politische Kultur des Abendlandes (und auch des Islam) geprägt haben. | |
So ist es kein Zufall, dass am Anfang seiner sorgfältig entfalteten | |
Genealogie der Apostel Paulus steht, der bekanntlich radikal zwischen | |
„Fleisch und Buchstaben“ hier sowie „Seele und Geist“ dort unterschieden | |
hat – eine Differenz, die Nirenberg auch noch in den Arbeiten von Immanuel | |
Kant und Karl Marx wiederfinden will. | |
Dass er dabei erklärtermaßen nicht zu Diskussionen beitragen will, „ob | |
Martin Luther Antisemit oder ein Vordenker des Holocaust war“, irritiert | |
hierzulande dann doch. Nirenbergs intellektualgeschichtliche Beschränkung | |
auf „Antijudaismus“ wird dem, worum es ihm letztlich doch auch geht, nicht | |
gerecht und nimmt seinen sonst so überzeugenden Ausführungen den | |
politischen Stachel. | |
## Was man ahnen konnte | |
Ganz anders Weins Darstellung, die im Einzelnen – bis in die Biografien | |
mutiger jüdischer, aber auch hetzerischer bis verwirrter deutschnationaler | |
oder kommunistischer Abgeordneter – nachweist, wie die Unterscheidungen von | |
„Eigenem“ und „Fremdem“, von „Volk“ und „Einwanderern“, von „… | |
„Arbeit“ Judenfeindschaft zum Ausdruck brachten. | |
Wer Weins Studie gelesen hat, wird noch besser als bisher verstehen, warum | |
Hetzreden die Demokratie zerstören und wie es zur Machtübergabe des | |
Bürgertums an Hitler kommen konnte. Welche Rolle dabei der Antisemitismus | |
spielte, ist noch immer umstritten; unbestritten ist, dass es schon zur | |
Weimarer Zeit Theorien über den Antisemitismus gab, mehr noch, dass manche | |
dieser Theoretiker sogar in gewisser Weise voraussahen, wohin eine | |
Machtübernahme der Nationalsozialisten führen würde. | |
Theorien über den Antisemitismus sind – das zeigt der vorzügliche Band zur | |
Geschichte der Antisemitisforschung – gerade so alt wie der politische | |
Widerstand gegen die Emanzipation der Juden im 18. Jahrhundert. Eine | |
wissenschaftliche Grundlegung der Erforschung dieser Widerstände wurde – | |
wenig erstaunlich – zuerst von Betroffenen, also jüdischen Gelehrten, | |
vorgelegt, wie Werner Tress am Beispiel der deutschen Länder im frühen 19. | |
Jahrhundert zeigt. | |
Dass viele dieser Erklärungsversuche ganz unterschiedlichen, zum Teil sogar | |
gegensätzlichen Theorien entstammten, weisen Klaus Holz und Jan Weyand nach | |
– unter diesen Theoretikern fanden sich Zionisten und Antizionisten, | |
orthodoxe – wie David Jünger nachweist – und liberale Juden; in aller | |
Regel, mit ganz wenigen Ausnahmen, Männer. Manche dieser Autoren waren | |
beides in einem: Antisemiten sowie Theoretiker des Antisemitismus, etwa der | |
bizarr tragische Otto Weininger, dem der hervorragende Beitrag von | |
Christine Achinger gilt. | |
Es ist an dieser Stelle unmöglich, allen Beiträgen gerecht zu werden, | |
hingewiesen sei nur auf den durchaus zu Unrecht vergessenen Leo Wertheimer, | |
der sich den Nom de Guerre „Constantin Brunner“ gab und mit seinem | |
entschiedenen Assimilationsprogramm wohl der interessanteste, weil | |
widersprüchlichste dieser Theoretiker war, wie Jürgen Stenzel zeigt. | |
Bei allen Verdiensten des Bandes fällt doch eine Lücke auf: Warum die | |
Herausgeber zwar die von Koppel Pinson verantworteten New Yorker „Essays on | |
Antisemitism“ aus dem Jahr 1942 erwähnen, Horkheimers und Adornos | |
entsprechende, ebenfalls in diesen Jahren verfasste Passagen aus der | |
„Dialektik der Aufklärung“ jedoch nicht, bleibt ihr Geheimnis. Oder liegt | |
es daran, dass Horkheimer und Adornos 1944 entstandene Überlegungen erst | |
1947 publiziert wurden? | |
28 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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