# taz.de -- Der Roman „Jagen 135“: Die Suche nach dem Ort der Freitode | |
> Ein Fotograf soll den Ort finden, an dem sich viele Menschen selbst | |
> töten. Das Twin-Peaks-Mäßige des Buches zieht den Leser in seinen Bann. | |
Bild: Draußen in der Welt, außerhalb des unheimlichen Waldes, beginnt ein Wel… | |
Konrad ist ein Fotograf in seinen Vierzigern. Mit Kriegsbildern wurde er | |
reich und berühmt. Die Redaktion der Zeitung, für die er arbeitet, hat ihn | |
beauftragt, in einem Wald den Ort zu finden und zu fotografieren, an dem | |
sich seit Jahrhunderten Menschen das Leben nehmen. 132 sollen es gewesen | |
sein. Wo genau dieser Ort ist, ist unklar. | |
„Die Angaben in den Zeitungsartikeln und in den Polizeiberichten decken | |
sich nicht mit den Aussagen der Hinterbliebenen. Einige behaupten, der Ort | |
liege südlich der Grenze, außerhalb der Sichtweite der Wachposten, andere | |
vermuten ihn in Richtung Norden, in der Nähe der Flussbiegung. Viele sind | |
überzeugt, er müsse im Zentrum des Waldes liegen, von den nächsten | |
Siedlungen am weitesten entfernt.“ | |
Zwei seiner Kollegen hatten Jahre vor ihm vergeblich versucht, den | |
magischen Ort zu finden. Verstört sind sie zurückgekommen; „von Meier hat | |
man seitdem nie wieder etwas gelesen, und Stachmann wurde für verrückt | |
erklärt“. | |
Der dritte Roman von Tobias Sommer beginnt wie eine klassische unheimliche | |
Geschichte aus dem 19. Jahrhundert, und als Zeitgenosse möchte man noch | |
gegen das Setting protestieren: Im Journalismus ist Selbstmord ein | |
Tabuthema! Keine Zeitung würde eine derartige Geschichte in Auftrag geben. | |
Jede Berichterstattung, die den Suizid als nachvollziehbar darstellt, gilt | |
als verwerflich, da sie potenzielle Selbstmörder ermutigen würde. | |
## Diffuse Landschaft der Erzählung | |
Beim Weiterlesen vergisst man jedoch die Einwände und lässt sich in die | |
seltsam diffuse Landschaft der Erzählung hineinziehen. Es ist unklar, in | |
welchem Land und in welcher Zeit „Jagen 135“ spielt. Nicht in Deutschland. | |
Irgendwo, wo es große Wälder gibt, vermutlich in Mitteleuropa, vermutlich | |
in den frühen neunziger Jahren, da in dem Buch keine Handys benutzt werden. | |
Man ist sich nicht sicher, und es ist auch nicht so wichtig. Der Held, ein | |
eher zurückhaltender, stiller Charakter, ist auf sich selbst | |
zurückgeworfen. Die ersten Tage verbringt er in einem alten Hotel. | |
Beobachtet Insekten, die in Gläsern gefangen sind, hat das Gefühl, | |
beobachtet zu werden. Macht erste Erkundungsgänge im Wald. Ein anderer | |
Gast, Kurtz, ist auch da und wird später wieder verschwinden. | |
Konrad wechselt die Herberge und trifft dort Susanne, die nach dem Ort | |
sucht, an dem sich ihr Sohn, ein junger berühmter Sportler, das Leben nahm. | |
## Abweisende Menschen | |
Die Suche nach dem Ort der Freitode hat etwas Twin-Peaks-Mäßiges. Dieser | |
Ort saugt den Suchenden an und stößt ihn ab. Die Stadt ist weit, die | |
Menschen sind eher abweisend, bis auf den Besitzer eines Dorfladens, der | |
mehr weiß, als er sagt. | |
Draußen in der Welt, außerhalb des unheimlichen Waldes, beginnt ein | |
Weltkrieg vermutlich. Den Fotografen lässt das seltsam unberührt. Er denkt | |
über Leben und Glück und den ausbeuterischen Teil seiner Arbeit nach, das | |
Foto vor allem, das ihn so berühmt gemacht hatte. Ein Hochzeitsfoto aus | |
einem Krieg im Nahen Osten. Die Braut ist eine Bombe. | |
Oft versucht Konrad mit seiner Frau, die gerade in Israel zu tun hat, zu | |
telefonieren. Die Verbindung wird immer schlechter, bis dass er sie nicht | |
mehr erreicht. Die Suche geht weiter. Die Dörfler werden feindselig. | |
Seltsame Dinge geschehen. | |
Tobias Sommer ist ein atmosphärisch dichter, spannungsreich erzählter Roman | |
gelungen, der manchmal wie aus der Zeit gefallen wirkt. Auch weil er der | |
Versuchung widersteht, die mittlerweile üblichen 400 Seiten lang zu sein, | |
und seine Figuren eher knapp beschriebt. Eine Erklärung für den irgendwie | |
Science-fiction-haften Titel findet sich im Internet: Der ehemalige | |
Selbstmörderfriedhof Berlins befindet sich im „Jagen 135 des Grunewalds“. | |
18 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Detlef Kuhlbrodt | |
## TAGS | |
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