# taz.de -- Die Wahrheit: Anorak des Schweigens | |
> Männer sind die wahren Opfer des Poststreiks. Erstmals wird jetzt das | |
> ganze Leid der Paketlosen öffentlich gemacht. | |
Bild: Beim Prosecco den Freunden die neuesten Erwerbungen vorführen, ist für … | |
Alexander weint jetzt hemmungslos. Der kräftige 27-jährige Bauingenieur | |
bringt die Worte nur unter starkem Schluchzen hervor: „Drei Wochen! Vor | |
drei Wochen habe ich mir vier neue Oberteile bestellt! Karierte, in voll | |
schönen Farben! Und? Nichts! Und das Schwerste für mich ist, dass meine | |
Frau überhaupt kein Verständnis dafür hat, dass mich das so fertigmacht!“ | |
Der Streik der DHL-Paketzusteller hat die Aufmerksamkeit auf ein Problem | |
gelenkt, das bisher nicht im Fokus der Öffentlichkeit stand: Immer mehr | |
Männer sind abhängig von online bestellter Kleidung. Momentan geraten viele | |
von ihnen in krisenhafte Gemütszustände, weil sie teilweise seit Wochen auf | |
die begehrten Pakete warten müssen. | |
Immerhin: Der Göttinger Sozialpsychologe Dr. Heinrich Mauritz begrüßt es, | |
dass „das politische Gesprächsthema Streik“ den traumatisierten und durch | |
Rollenklischees eingeschüchterten Männern jetzt die Möglichkeit gibt, | |
erstmals ihr Problem öffentlich zu machen und den „Anorak das Schweigens“ | |
von einer bisher nie ausreichend ernst genommenen Randgruppe wegzuziehen. | |
Tatsächlich hört man jetzt immer öfter in der Kantine, in der S-Bahn oder | |
im Familien- und Freundeskreis aufgeregte Gespräche entnervter Männer, die | |
beklagen, „schon seit Tagen“ auf das Paket mit den Schuhen von Sandalo zu | |
warten. Nun lässt sich die Vorfreude auf das 68. Paar Sandaletten noch als | |
liebenswerter Tick abtun – aber das Ausbleiben der bestellten | |
Oberbekleidung von Waalkes, Stielobst oder Tim Thaler, um nur die | |
gängigsten Onlineshops zu nennen, führt viele Männer direkt in die soziale | |
Ausgrenzung. | |
Hinter so mancher „Krankschreibung“ steckt dieser Tage in Wirklichkeit die | |
Sorge eines Mannes, etwas anziehen zu müssen, bei dem die Kollegen sofort | |
mit spitzer Stimme fragen: „Hattest du das kurz vor Ostern nicht schon mal | |
an?“ Oder, noch schlimmer: Die angeblich so kollegialen und netten Jungs | |
aus der Abteilung tuscheln hinter seinem Rücken gehässig darüber, wie | |
unmöglich dieses Oberteil aussieht zu den Schuhen. | |
## „Ich bestell mir einfach was Schönes!“ | |
Mauritz betont im Übrigen, dass das Leiden an den ausbleibenden Lieferungen | |
„durchaus Krankheitswert“ hat. Allein der Verzicht auf das erwartungsvolle | |
Kribbeln in den Tagen nach der Bestellung komme „einer mittelschweren | |
depressiven Episode“ gleich. Vor allem aber fehlten den Männern die von | |
geradezu hysterischer Fröhlichkeit geprägten Prosecco-Abende mit ihren | |
Kumpels, während derer die frische Ware ausgepackt und anprobiert werde. | |
Übrigens lassen Männer ihre Partnerinnen gern in dem Glauben, es gehe um | |
Fußball und Bier oder um einen Puffbesuch – mit der „peinlichen“ Wahrheit | |
wollten viele bisher lieber nicht herausrücken. | |
Immer häufiger berichten die Mitarbeiter der zahlreichen kurzfristig | |
eingerichteten Seelsorge-Hotlines von Anrufern, die vor Wut weinend wilde | |
Drohungen ausstoßen: „Wenn das Paket von ASAS nicht asap kommt, dann knöpfe | |
ich mir diese Gewerkschaftsfaschisten mal persönlich vor!“ Um dann | |
endgültig schluchzend zusammenzubrechen: „Ach nee. Ich kann ja nicht raus! | |
Ich hab ja nix anzuziehen!“ | |
Es handelt sich wohlgemerkt um dieselben Männer, die sich noch vor einigen | |
Wochen entspannt und kichernd mit ihren Freunden darüber austauschten, dass | |
ihr zweiter Kleiderschrank jetzt schon so voll sei, dass die Türen nicht | |
mehr zugingen. „Ich müsste natürlich dringend mal ausmisten. Viele Sachen | |
hab ich ja nie angehabt. Aber ich bring’s einfach nicht übers Herz, die | |
wegzutun. Kuck hier, Foto. Die grauen Schlabber-Sweathirts von Olivero | |
Kahno sind sooo süüüß, oder? Die kann ich doch nicht einfach weggeben!“ | |
Dieselben Männer, die beim Eintreffen einer Geburtstagseinladung bis vor | |
Kurzem als Erstes fragten: „Was zieh ich denn da bloß an?“, und dann | |
unkompliziert hinzufügten: „Au ja, ich weiß! Ich bestell mir einfach was | |
Schönes!“, ziehen sich jetzt vollständig aus dem geselligen Leben zurück. | |
Froh über die Entwicklung sind einzig Mönchsorden, Polizei und Bundeswehr – | |
der Zulauf wächst seit Streikbeginn. Kein Wunder, denn nur hier können | |
Männer jeden Tag dasselbe tragen, ohne dafür ausgegrenzt zu werden. | |
Naive Zeitgenossen fragen, warum die betroffenen Männer nicht einfach | |
Ladengeschäfte aufsuchen. Nun: Diese Art des Einkaufens haben sie schlicht | |
verlernt – wenn sie sie jemals beherrschten. Vor allem aber: Sie haben doch | |
nix anzuziehen! Wie sollten sie denn da in ein Ladengeschäft gehen? | |
3 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Oliver Domzalski | |
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