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# taz.de -- Tauchen Im Kreidesee: Der Rüttler, ein U-Boot und die schöne Lilly
> Im Kreidesee Hemmoor erwarten Taucher oder U-Boot-Fahrer eine versunkene
> Industrieruine und andere Überraschungen aus der Vergangenheit.
Bild: Ein U-Boot nähert sich dem Unterwasser-Propellerflugzeug im Tauchrevier.
Ein neuer Tag erwacht über dem unscheinbaren Elbe-Weser-Dreieck in
Niedersachsen. Noch schläft der Kreidesee Hemmoor im ersten Morgengrauen.
Nur ein Stockentenpärchen zieht schon lautlos seine Bahn über den
spiegelglatten Baggersee. Wenig später dann löst die frühe Sonne die
letzten Nebelschwaden der Nacht auf. Doch irgendetwas stimmt nicht an
diesem idyllischen Bild.
Was haben die Notruftelefone dort am Ufer zu suchen? Und was hat es mit
dieser merkwürdigen Straße auf sich, die am See beginnt und im selben
verschwindet? Eine glitschige Buckelpiste, auf der weder Autos noch
Fahrräder fahren, auf der kein Mensch flaniert. Nirgendwo ist sie
verzeichnet, nicht einmal Google kennt sie.
Schweigend legen die Taucher ihre Ausrüstung an. Michael „Micha“ Deckert
wird die kleine Gruppe führen. Er ist Ausbilder in der Dive-Station
Hemmoor, kennt den tiefen See wie seine Westentasche. Gut so, denn Jahr für
Jahr verunglücken Taucher im „Todesloch von Hemmoor“, wie der Baggersee
auch genannt wird. Schnurgerade, leicht abfallend führt die Straße ins
Wasser. Ein letztes „Okay“, schon schweben die Froschmänner.
Feinstes Sediment hat sich als ockerfarbene Decke auf das Pflaster gelegt.
Aber die Bordsteine geben den Tauchern Führung. Rechts des Weges erhebt
sich eine Böschung mit blattlosen Büschen. Längst haben grünlich-gelbe
Algen das schlanke Geäst besiedelt. Plötzlich, und zwar exakt bei 6,8 Meter
unter null, tauchen scheinbar Nebelschwaden auf.
Dieses irritierend-schöne Schauspiel entsteht durch das nur wenige
Zentimeter starke Metalimnion, im Volksmund auch als Sprungschicht
bezeichnet. In diesem Bereich fällt die Temperatur schlagartig von 22 auf
17 Grad und löst ein weißes Flackern aus – ein für stehende und tiefe
Süßwasserseen typisches Naturphänomen. Das Thermometer fällt weiter. Die
Büsche rechter Hand der Straße sind einem kahlen Wald gewichen.
Gespenstisch und unwirklich sieht er aus.
Kapitale Barsche und Saiblinge ziehen lautlos durchs Gehölz. Wir tauchen
durch eine stille und fremdartige Welt. Dabei ist es ein von Menschenhand
geschaffenes Refugium. Bis 1976 wurde Kalk aus der legendären Hemmoorer
Grube gefördert, der einst zum weltberühmten „Portland-Cement – Beste
Qualität – Hemmoor“ veredelt wurde. Doch der Abbau des nassen Kalkgesteins
rechnete sich nicht mehr.
Als dann die Pumpen demontiert wurden, lief das 1.300 Meter lange, 700
Meter breite und 60 Meter tiefe Baggerloch in nur vier Jahren mit Grund-,
Quell- und Regenwasser voll. Damit war das Schicksal von über 100 Jahren
Industriegeschichte besiegelt, die 1866 mit der Gründung einer kleinen
Fabrik begann, in der Kalk und Ton zu Zement gebrannt wurden. Der wurde
später als Portlandzement in kleine, mit Ölpapier ausgeschlagene Holzfässer
gefüllt und über die Oste und Elbe zum Hamburger Hafen und von dort aus in
alle Welt verschifft.
## Getreidesilos, Mietskasernen und Kolonialarchitektur
Bauarbeiter zementieren damit die Röhren des alten Hamburger Elbtunnels
ebenso wie Getreidesilos im brasilianischen Bahia, deutsche
Kolonialarchitektur in Kamerun, Mietskasernen in Hongkong, ja sogar den
Sockel der New Yorker Freiheitsstatue. Ein altes Andreaskreuz reflektiert
matt das Licht unserer Lampen. Dahinter zeichnen sich vage Umrisse eines
Betonklotzes von der Größe eines Luftschutzbunkers ab. Der Rüttler! Eine
versunkene Industrieruine, wie es sie kein zweites Mal auf der Welt gibt.
Vollbeladene Laster fuhren einst auf sein Dach und kippten ihr Kalkgestein
über eine trichterförmige Stahlschütte in den Bauch der monströsen
Maschine. Die tonnenschwere Fracht landete auf einem beweglichen Rost, der
das Geröll heftig durchrüttelte. Während die Flintsteine im Gitter hängen
blieben und später für den Straßenbau aufbereitet wurden, rieselte der
kostbare Kalk in die Loren im Keller. Die Taucher steuern die Außenwand an.
Auf dem grauen Beton verewigten sich Vorgänger vieler Nationen mit Kreide,
direkt aus dem See. Am Geländer haben sie Quietscheentchen und andere
Maskottchen montiert, 17 Meter unter Wasser. Und auf dem Rüttler parkt
heute ein versenkter Mercedes-Laster, als wolle er seine Ladung genau wie
vor 40 Jahren abkippen. Am Steuer rekelt sich die schöne Lilly lasziv mit
wilder Mähne, Partyschminke und einer Pulle Bier. Die Schaufensterpuppe
sieht so deplatziert aus, dass es schon wieder lustig ist. Wie auch die
Attrappe eines Weißen Hais ein Stück weiter draußen im Baggersee. Dort
taucht hin und wieder auch das kleine U-Boot „Eurosub“ auf und nimmt
interessierte Nichttaucher auf Erkundungstour durch die geheimnisvolle
Unterwasserwelt.
Nun tauchen sie kopfüber in den düsteren Stahlschlund. Der Druck nimmt zu,
das Licht ab. Bei Meter 23 endet der Trichter abrupt. Die Eindringlinge
sind im Bauch des Rüttlers gelandet. Weitere zwei Meter tiefer, in seiner
Magengegend sozusagen, absolvieren die Männer einen Sicherheitsstopp. Dive
Guide Micha schaut nun jedem Einzelnen ins Gesicht, ob sich erste Anzeichen
von Angst oder gar Panik zeigen.
## Kein Ort für Klaustrophobiker
Für alle Fälle noch schnell ein letzter Blick durch den Stahlschlund nach
oben ins dämmrige Licht. Der rettende Weg – falls es ernst werden sollte.
Man kann ja nie wissen. Dann tauchen alle seitlich weg. Sofort umfängt sie
tiefschwarze Nacht. Mit dem Schein ihrer starken Lampen tasten sie den
rostigen Trichter ab, jetzt an seiner Außenseite, also im Lungenflügel.
Vorsichtig gewinnen sie Höhe in einem enger werdenden Raum zwischen Stahl
und Beton. Einen Fluchtweg nach oben gibt es nicht, da ist das Dach, das
Schlüsselbein. Kein Ort für Klaustrophobiker.
Im Falle einer Havarie müssten die Taucher also erst nach unten, gegen
jeden Instinkt. Micha prüft die Manometer eines jeden Tauchers. Die Tanks
sind fast halb leer, höchste Zeit zur Umkehr. Sie lassen sich kontrolliert
durchsacken, hinunter in die schwache Dämmerung, in den Bauch. Wie hell und
freundlich dieser jetzt wirkt. Im Trichter gewinnen sie langsam an Höhe,
und durch seinen Schlund verlassen sie den schlafenden Riesen. Ganz
allmählich gewöhnt sich der Körper an den schnell fallenden Umgebungsdruck.
Die Temperatur steigt, es wird immer heller und freundlicher.
Eine Stunde lang waren die Taucher Zeugen einer konservierten
Vergangenheit. Jetzt hat sie die Gegenwart wieder. Mühle und Kirchturm
strahlen in der Sonne. Die Glocken läuten, acht Uhr. Zeit für knackige
Brötchen und Kaffee.
27 Jun 2015
## AUTOREN
Marc Vorsatz
## TAGS
Tauchen
Finnland
Peru
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