# taz.de -- Wahlsystem: Wahlrechtsreformer wehren sich | |
> Frauenmangel, Fremdverwertung, Personenstimmen-Paradox: Der Verein „Mehr | |
> Demokratie“ und das von ihm erkämpfte neue Wahlrecht. | |
Bild: Kompliziert: Bremer Wahlzettel. | |
Bremen taz | Gut ein Viertel der neuen Bürgerschaftsabgeordneten verdankt | |
ihr Mandat den Personenstimmen. Doch das neue Wahlrecht, das die | |
differenzierte Stimmabgabe ermöglicht, steht unter anderem wegen der | |
geringen Beteiligung an der jüngsten Bürgerschaftswahl in der Kritik - | |
insbesondere aus den Reihen von SPD, Linkspartei und CDU. | |
Doch ohne das personalisierte Wahlrecht, meint Paul Tiefenbach vom Verein | |
„Mehr Demokratie“, wäre die Wahlbeteiligung „wahrscheinlich noch geringe… | |
ausgefallen. Denn während im Vergleich zur vorherigen Wahl, als das neue | |
Recht erstmals galt, 18 Prozent weniger Listenstimmen abgegeben wurden, | |
blieb die Anzahl der Personenstimmen nahezu konstant. | |
Bezogen auf WählerInnen, die ausschließlich Listen oder KandidatInnen | |
ankreuzten, ist die Tendenz noch deutlicher: Trotz gesunkener | |
Wahlbeteiligung gab es ein Plus von 6.060 Komplett-NutzerInnen des | |
Personenwahlrechts - und 20.000 weniger Nur-ListenwählerInnen. | |
Ein zweiter Faktor ist die Motivation der KandidatInnen, die eine schlechte | |
Listenplatzierung durch persönlichen Einsatz ausgleichen können. Die, meint | |
Tiefenbach, aktivierten dann unter Umständen Wählerschichten, „die sich | |
sonst nicht an der Wahl beteiligen würden“. | |
Die Verdoppelung ungültiger Stimmen im Vergleich zur früheren reinen | |
Listenwahl auf rund drei Prozent, räumt Tiefenbach ein, sei hingegen | |
durchaus dem neuen Wahlrecht geschuldet; wenigstens zum Teil. Da die Hälfte | |
der ungültigen Stimmen an zu vielen Kreuzen krankt, schlägt „Mehr | |
Demokratie“ eine „Heilungsregel“ vor: Gelten alle Stimmen einer Partei, | |
würde der Wählerwille als erkennbar gewertet. | |
Was aber ist mit der „Fremdverwertung“? Zieht jemand wie Jens Böhrnsen | |
besonders viele Personenstimmen auf sich, kommt das indirekt - und aus | |
Wählersicht wohlmöglich ungewollt - auch anderen Kandidaten seiner Partei | |
zu Gute. Dieses Phänomen gebe es jedoch auch bei der reinen Listenwahl, | |
wendet Tiefenbach ein. In der Tat hatte sich schon Henning Scherf mit dem | |
Hinweis unbeliebt gemacht, viele SPD-Parlamentarier verdankten ihm ihr | |
Mandat. | |
Aber ist das neue Wahlrecht nicht schlecht für Frauen? Von den 22 | |
Abgeordneten, die durch Personenstimmen von den unteren Listenplätzen | |
aufstiegen, sind nur sechs weiblich. Insgesamt sinkt der Frauen-Anteil im | |
Parlament auf 30 Prozent, das ist das Niveau von Niedersachsen. Unter den | |
selben Wahlbedingungen lag er 2011 allerdings bei 41 Prozent, die | |
seinerzeit höchste Quote aller deutschen Landtage. Auffällig sei, | |
analysiert Tiefenbach, dass unter den vielen Personenstimmen-gestärkten | |
Aufrückern mit Migrationshintergrund ganz überwiegend Männer seien. | |
Bleibt das Problem mit dem Personenstimmen-Paradox. Natürlich sei es „ein | |
Fehler“, sagt Tim Weber von „Mehr Demokratie“, wenn ein in der Mitte der | |
Liste platzierter Kandidat leer ausgeht, weil seine persönlichen Stimmen | |
zwar zur Vermehrung der Personenmandate zu Lasten der Listenplätze | |
beitragen, aber nicht für den persönlichen Erfolg ausreichen. Wie viele | |
Beirats-KandidatInnen diesem Paradox bei den vergangenen beiden Wahlen zum | |
Opfer fielen, ist nicht erforscht. Auf Landtags-Ebene traf es nur einen: | |
Thomas vom Bruch, der durch den Mandatsverzicht seiner CDU-Kollegin | |
Elisabeth Motschmann aber nachrückt. Weber hält das Problem beispielsweise | |
durch eine zunächst provisorische Mandatsvergabe für lösbar. | |
Die transparenteste Methode bestünde allerdings in einer reinen | |
Personenwahl, meint „Mehr Demokratie“. Den Parteien käme dann noch immer | |
die Schlüsselfunktion der Listenaufstellung zu. Fremdverwertung und | |
Personenstimmen-Paradoxe wären aber ausgeschlossen. | |
„Mehr Demokratie“ rechnet mit der Einsetzung eines Parlaments-Ausschusses, | |
um Wahlrechts-Verbesserungen auf den Weg zu bringen. Daran beteilige man | |
sich gern. Werde das neue Wahlrecht aber substantiell ausgehebelt, sagt | |
Tiefenbach, „starten wir ein Volksbegehren“. | |
11 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Henning Bleyl | |
## TAGS | |
Wahlrecht | |
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