# taz.de -- Gregor Gysis Abschied: Gut gegangen | |
> Entschuldigungen, öffentliche zumal, haben in der Politik | |
> Seltenheitswert. Gregor Gysis Abbitte an seine Familie war mehr als | |
> wohlfeile Parteitagsshow. | |
Bild: „Ich habe viel zu wenige Freundschaften gepflegt, ich hatte viel zu wen… | |
Berlin taz | Gregor Gysi hätte mit seinem Leben einiges anstellen können. | |
Ein paar Dinge hat er mehr oder weniger erfolgreich ausprobiert. Er war | |
Melker. Er wurde Anwalt. Und schließlich Politiker. Das ist er noch. | |
Zumindest bis zur nächsten Bundestagswahl im Herbst 2017 bleibt er | |
Abgeordneter – so hat er es auf dem Parteitag der Linken in Bielefeld | |
angekündigt. | |
Dass er schon bald, am Ende dieses Sommers, sein Amt als | |
Fraktionsvorsitzender zur Verfügung stellen wird, hat er den Delegierten | |
gegenüber am Sonntag erklärt. Nach einem Vierteljahrhundert geht damit eine | |
politische Ära zu Ende. Die Tragweite seiner Entscheidung ist bei Weitem | |
noch nicht zu ermessen. Gysi, der streitbare Politiker, wird die zwölf | |
Minuten dankbaren Applaus sehr genossen haben. | |
Dennoch, in all diesen Jahren, die vom 20. bis ins 21. Jahrhundert | |
hineinragen, war Gregor Gysi auch noch etwas anderes. Ein Privatmensch. Ein | |
Ehemann, Vater, Bruder, Sohn. Er hat zweimal geheiratet, er ist Vater von | |
drei Kindern, er hat seine Eltern begraben. Er hat, kurz gesagt, ein | |
Familienleben gelebt, das in seiner Zerklüftung und Unvorhersehbarkeit | |
nicht unüblich ist für unsere Zeit. Und doch muss es hart gewesen sein. | |
Denn Gysi hat sich am Sonntag bei den Seinen dafür ausdrücklich | |
entschuldigt. | |
„Ich habe viel zu wenige Freundschaften gepflegt, ich hatte viel zu wenig | |
Zeit für meine Angehörigen“, sagte er in Bielefeld. Und schließlich: „Es | |
tut mir sehr, sehr leid.“ Und dann flossen Tränen. | |
## Die dunkelste Seite der Politik | |
Es war einer jener seltenen Augenblicke, in denen das politische Geschäft | |
kurz eine seiner dunkelsten Seiten offenbart: die soziale Verwahrlosung | |
jener, die tatsächlich meinen, die Politik könne nicht ohne sie | |
funktionieren. Im Moment von Gysis Entschuldigung sah man sie vor sich: die | |
geschwänzten Kindergeburtstage und Elternabende, die verstrichenen | |
Gelegenheiten zum klärenden Gespräch, den abgebrochenen Urlaub und die | |
verpasste Muße eines Gartentages. | |
„Vorbei, verweht, nie wieder“, heißt es in Kurt Tucholskys Gedicht „Augen | |
in der Großstadt“. Es erzählt von der flüchtigen Vergeblichkeit des | |
Augenblicks. | |
Gregor Gysi, der Mann, der drei Herzinfarkte und eine lebensbedrohliche | |
Gehirnoperation überstanden hat, hat eine richtige Entscheidung getroffen. | |
Mit 67 Jahren. Er hat sich bedankt und entschuldigt. Und ja, das Leben mit | |
ihm wäre sicher ein uninteressanteres gewesen ohne seine | |
Selbstüberschätzung und all die große Eitelkeit. | |
Aber wer sagt eigentlich, dass ein heftiger Streit über nicht gemachte | |
Hausaufgaben nicht mindestens so wichtig gewesen wäre wie der um die | |
Strömungsarithmetik einer Bundestagsfraktion? | |
8 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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