| # taz.de -- „Charlie Hebdo“ in der Krise: Die Zerreißprobe | |
| > Die Solidarität nach dem Anschlag brachte „Charlie Hebdo“ etwa 30 | |
| > Millionen Euro ein. Nun gibt es Streit über Geld, Struktur und | |
| > inhaltliche Ausrichtung. | |
| Bild: Der Zeichner Luz im Januar mit der ersten Ausgabe nach dem Attentat. | |
| PARIS taz | Den beiden islamistischen Terroristen Saïd und Chérif Kouachi | |
| ist es mit ihrem mörderischen Anschlag am 7. Januar nicht gelungen, Charlie | |
| Hebdo zum Schweigen zu bringen. Dennoch ist dessen Existenz gefährdet. Der | |
| Grund ist eine schwere interne Krise. Das Hochgefühl angesichts der | |
| weltweiten Solidarität hat einer Katerstimmung Platz gemacht, die Einheit | |
| des „Charlies“ hat tiefe Risse, der interne Streit ist nach außen nicht | |
| mehr zu vertuschen. | |
| Nach dem Schock über das Blutbad, bei dem zwölf Menschen getötet wurden, | |
| hatten die überlebenden Zeichner und Texter der Wochenzeitung gemeint, | |
| nichts könne sie ernsthaft treffen. Ausgerechnet die Mobilisierung von | |
| Millionen Menschen, die sagten „Ich bin Charlie“, und der ungeahnte | |
| Geldsegen provozieren jetzt im Nachhinein unter den Überlebenden eine | |
| gravierende Zerreißprobe. | |
| Aus den Symptomen ist zu schließen, wie ernst die Diagnose ist: Luz (Renald | |
| Luzier), eine der historischen Figuren, die das Attentat überlebt haben, | |
| will laut Informationen des Onlinemagazins „Mediapart“ Charlie Hebdo | |
| verlassen. Nicht etwa aus Angst oder Feigheit, sondern wegen der | |
| ausartenden Meinungsverschiedenheiten. Er will anderswo weiter mit seinem | |
| Zeichenstift als Waffe für seine Ideen einstehen. | |
| Für Ende dieser Woche hat er ein Comicalbum über die Ereignisse bei Charlie | |
| Hebdo und ihre Folgen mit dem bezeichnenden Titel „Catharsis“ (Läuterung) | |
| angekündigt. Die Soziologin und kritische Islamspezialistin Zineb El | |
| Rhazoui hat in der vergangenen Woche von der Direktion einen Brief und eine | |
| Vorladung zu einem Gespräch am 26. Mai bekommen, bei dem es um ihre | |
| Entlassung gehen soll. Von ihr stammte namentlich eine spöttische, aber gut | |
| dokumentierte Mohammed-Biografie in Comicform, illustriert von dem dann | |
| ermordeten Exredaktionschef Charb. | |
| ## Morddrohungen und Bürokratie | |
| Man laste ihr an, seit dem Attentat ihre beruflichen Pflichten versäumt zu | |
| haben, erklärt El Rhazoui. „Es gab keine Diskussion (seitens der Direktion) | |
| oder eine Mahnung wegen irgendeines Fehlers, den man mir vorwerfen könnte. | |
| Die Personalchef und der Finanzdirektor haben sich hinter einer laufenden | |
| Prozedur verschanzt – wie in einer Bürokratie!“ | |
| Sie ist über den Vorwurf, sie habe seit Januar womöglich zu wenig | |
| gearbeitet, empört, weil sie wie alle Überlebenden der Redaktion Mühe hat, | |
| über diese tragischen Vorkommnisse hinwegzukommen. Zudem ist sie wegen | |
| Todesdrohungen besonders exponiert; sie schlafe abwechselnd in Hotels oder | |
| bei Freunden. Ihr Ehemann, dessen Identität von Islamisten auf Twitter | |
| enthüllt worden war, musste aus Sicherheitsgründen seinen Job in Marokko | |
| aufgeben, sagt sie. | |
| Falls sie tatsächlich in einer so exemplarischen Weise entlassen würde, | |
| müsste zwangsläufig der peinliche Verdacht aufkommen, dass man sie opfern | |
| wolle, um Charlie Hebdo ein wenig aus der Schusslinie zu bringen; denn die | |
| heutige Redaktionsleitung will in Zukunft erklärtermaßen auf allzu sehr | |
| anstoßerregende Mohammed-Karikaturen verzichten, um nicht als „islamophob“ | |
| beschimpft zu werden. In den letzten Wochen widmete sich Charlie Hebdo | |
| vorzugsweise mit hämischen Spott anderen Lieblingsthemen wie dem Front | |
| National und dem Familienstreit der Le Pens. | |
| ## 220.000 Abonnenten | |
| Man erinnert sich in Frankreich und auch in Deutschland: Millionen Menschen | |
| gingen, empört über den terroristischen Angriff auf die Meinungsfreiheit | |
| und das Recht zur blasphemischen Karikatur, am 11. Januar auf die Straße. | |
| Rund 7 Millionen Leute kauften sich in der Woche ein Exemplar der – trotz | |
| allem oder nun erst recht publizierten – Sondernummer in einer | |
| außergewöhnlichen Spezialauflage mit mehreren fremdsprachigen | |
| Übersetzungen. Schätzungsweise 30 Millionen Euro sind beim Verkauf dieser | |
| Nummer und dank Spenden in die Kasse des Satireblatts geflossen, das vor | |
| dem Attentat noch kurz vor dem Bankrott gestanden haben soll. | |
| Die Zahl der Abonnenten stieg in einem einzigen Monat nach der Attacke von | |
| 10.000 auf mehr als 220.000! Finanziell war damit eigentlich die Zukunft | |
| auf Jahre hinaus mehr als gesichert. Noch ist in manchen Kiosken in Paris | |
| diese Sondernummer vom 14. Januar wie ein antiterroristisches Manifest und | |
| nicht bloß nur zum Verkauf an etwaige Sammler und frisch bekehrte | |
| Charlie-Hebdo-Fans ausgehängt. | |
| Vier Monate später ist das bereits ein leicht vergilbtes Dokument der | |
| Geschichte von vorgestern. Und womöglich werden gerade die treuesten Leser | |
| ihr spöttisches Lieblingsblatt bald nicht wiedererkennen! Das jedenfalls | |
| befürchtet ein Kollektiv von 15 bisherigen Mitarbeitern, die Ende März in | |
| der Tageszeitung Le Monde eine gemeinsame Stellungnahme zu Sinn und Konzept | |
| von Charlie Hebdo nach den Anschlägen vom Januar unterzeichnet und | |
| publiziert haben. Darin fordern sie mehr Transparenz und eine neue | |
| demokratische Struktur einer Zeitung, die wie ein kleines | |
| Familienunternehmen funktioniert hat und bisher de facto drei Eigentümer | |
| hat: 20 Prozent des Kapital gehören dem Finanzdirektor Eric Portheault, 40 | |
| Prozent dem neuen Redaktionsleiter Riss (Laurent Sourisseau) 40 Prozent den | |
| Erben des bei dem Attentat ermordeten Zeichners Charb (Stéphane | |
| Charbonnier). | |
| Dabei kann es nach Meinung des kritischen Kollektivs nicht bleiben, weil | |
| sich durch das Attentat alles geändert hat: Charlie Hebdo sei nicht nur ein | |
| weltweites „Symbol“ geworden, sondern in gewissem Sinn sogar ein | |
| „Allgemeingut“, das die Ziele der Gründer und ermordeten Kollegen bewahrt | |
| und den Erwartungen der internationalen Solidaritätswelle entspricht. | |
| Letztlich soll die Zeitung symbolisch allen gehören, die mit dem Slogan | |
| „Ich bin Charlie“ demonstriert haben. „Für euch Millionen von | |
| Unterstützenden und Lesern müssen wir den Kampf unseren Werten getreu | |
| fortsetzen und euch dabei die größte Transparenz garantieren.“ Und das ist | |
| offenbar intern umstritten. Denn da ist das „Gift des Reichtums“ und sein | |
| möglicher Missbrauch. | |
| ## Kein Mitspracherecht für Redaktiosmitglieder | |
| Die einzige Antwort bestehe in einer gemeinsamen Reorganisation und | |
| Umstrukturierung. Die Zeitung dürfe nicht zwei, drei Leuten gehören, | |
| sondern muss von den ZeitungsmacherInnen kontrolliert sein. Statt einer AG | |
| müsse der Besitz im Interesse einer totalen Unabhängigkeit an eine | |
| Genossenschaft übergehen. Im Gegensatz zu den meisten französischen | |
| Zeitungen hatte bei Charlie Hebdo noch nicht einmal eine Gesellschaft der | |
| Redaktionsmitglieder ein Mitspracherecht, protestiert Patrick Pelloux, ein | |
| in Frankreich bekannter Sprecher der Notfallärzte und regelmäßiger | |
| Kolumnist bei Charlie. Nicht zuletzt, um bereits zirkulierende Gerüchte | |
| über die Verwendung der Millionen zu kontern, verlangt er im Namen des | |
| Kollektivs, das dazu zwei Anwälte engagiert hat, eine Buchprüfung. | |
| Er sei „angewidert“, weil da „trotz einer gegenseitigen Vereinbarung“ | |
| Details aus einer rein internen Debatte an die Öffentlichkeit gelangt | |
| seien, beklagt sich dagegen Finanzdirektor Portheault. Auf mehr Diskretion | |
| drängt auch der langjährige Anwalt der Direktion, Richard Malka, den man in | |
| Frankreich vor allem als Exverteidiger von Dominique Strauss-Kahn kennt. | |
| Malka hat auch dessen Kommunikationsberaterin Anne Hommel eingespannt. Sie | |
| sorgt dafür, dass die Redaktion von Charlie Hebdo nach außen schweigt und | |
| sich namentlich gegen den Ansturm der Interviewanfragen der internationalen | |
| Medien abschottet. Selbst die KollegInnen der Zeitung Libération, in deren | |
| Räumlichkeiten die Charlie-Satiriker seit dem Attentat unter Polizeischutz | |
| tagen und arbeiten, wundern sich nicht wenig über diese Distanziertheit, | |
| die in krassem Kontrast zur Forderung nach Transparenz steht. | |
| 18 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Rudolf Balmer | |
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