# taz.de -- Bildung: Flüchtlingskinder haben schulfrei | |
> Viele Kinder in Deutschland haben eingeschränkten oder keinen Zugang zu | |
> Bildung, so der UN-Sondergesandte. Bundesregierung und Ländern schweigen. | |
Bild: Selektiv, diskriminierend und ungerecht - so urteilte Muñoz schon vor ei… | |
Der kleine Nino könnte ein ganz normaler Berliner Grundschüler sein; | |
vielleicht frech oder faul, vielleicht auch lernbegierig und strebsam; | |
vielleicht einfach nur unauffällig. Ist er aber nicht. Als Nino in die | |
Schule kam, war er der Einzige aus seinem Wohnheim, der sich wenigstens an | |
manchen Tagen überhaupt morgens zur Schule aufmachte. Für seine Mutter war | |
es jedes Mal ein Riesenakt, ihn auf den Weg zu bringen: Der Sechsjährige | |
wehrte sich mit Händen und Füßen; kam er überhaupt in der Schule an, saß er | |
dort schweißgebadet auf seinem Stuhl. Klingelte es endlich zum Ende des | |
Schultags, stürzte er aus dem Gebäude zurück nach Hause. | |
Weil sich die Lehrer nicht zu helfen wussten, schalteten sie eine | |
Mediatorin ein. Die fand in langen Gesprächen heraus, was den kleinen | |
Roma-Jungen vom Lernen abhielt: Als Vierjähriger hatte er zugeschaut, wie | |
sein Vater mitten in der Nacht zuhause abgeholt und abgeschoben wurde. | |
Seither wollte er das Haus nicht mehr verlassen, vor lauter Angst, dass sie | |
in seiner Abwesenheit auch noch seine Mutter holen. | |
Es ist das Verdienst der Vereinten Nationen, dass inzwischen darüber | |
geredet wird, dass es Schüler gibt, denen das Recht auf Lernen rundweg | |
verweigert und deren Menschenrecht auf Bildung damit auf krasseste Weise | |
verletzt wird. Auf 26 Seiten legte der UN-Sonderberichterstatter für das | |
Recht auf Bildung, Vernor Muñoz, im März 2007 ein Fazit einer | |
Deutschland-Reise vor, das das deutsche Schulsystem als selektiv, | |
diskriminierend und ungerecht beschreibt. | |
Deutsche Bildungsexperten bestätigen das düstere Szenario. Gestern Abend | |
wurde in Berlin ihre Stellungnahme zum Muñoz-Report: "Recht auf Bildung - | |
Zum Besuch des Sonderberichterstatters der Vereinten Nationen in | |
Deutschland" vorgestellt. | |
Seit Montag ist Muñoz zum ersten Mal seit der Vorstellung des Berichts | |
wieder in Berlin. Vorgestern sprach er auf dem Weltlehrerkongress der | |
"Bildungsinternationale" über Kinderrechte und Nichtdiskriminierung. | |
Gestern diskutierte er unter anderem mit der Schulexpertin der Gewerkschaft | |
Erziehung und Wissenschaft (GEW), Marianne Demmer, im Wissenschaftszentrum | |
Berlin über das Menschenrecht auf Bildung. Dabei hätte der | |
UN-Sonderberichterstatter aus Costa Rica über die Zustände in Deutschland | |
bei seinem Besuch in Berlin am liebsten nicht noch einmal gesprochen. | |
"Solange ich keine Antwort von der Bundesregierung und der | |
Kultusministerkonferenz habe, halte ich das eigentlich für nicht opportun", | |
sagte Muñoz. | |
Warum aber hat er bisher keine Antwort erhalten? Das wüsste der | |
UN-Vertreter auch gern. Marianne Demmer wird ein bisschen deutlicher: "Wir | |
erwarten, dass die Vereinten Nationen sehr bald eine Stellungnahme | |
erhalten." In Berlin hat Muñoz auch seine herbe Kritik an dem Fokus des | |
weltweiten Bildungswesens wiederholt. "Bildung wird viel zu sehr unter | |
ökonomischen Gesichtspunkten verstanden", erklärte er. Bildung sei aber | |
nicht in erster Linie ein Mittel im Kampf gegen Arbeitslosigkeit: "Das Ziel | |
von Bildung ist die Herausbildung freier Persönlichkeiten, der Erhalt und | |
die Prägung von Menschenwürde, Chancengleichheit." Bildung sei ein | |
Menschenrecht und kein Marktinstrument. | |
Der kleine Nino zum Beispiel hatte Glück im Unglück: Immerhin besucht er | |
überhaupt eine Schule. Die Vereinten Nationen warfen dieses Jahr bereits | |
zweimal - einmal über den Berichterstatter Muñoz und noch einmal über ihr | |
Kinderhilfswerk Unicef - ein drastisches Licht auf das Leben von mehreren | |
zehntausend Flüchtlingskindern in Deutschland. | |
Kinder in Angst vor Abschiebung trauen sich nicht nur häufig nicht zur | |
Schule. In drei Ländern, Hessen, Baden-Württemberg und dem Saarland, sind | |
sie nicht einmal schulpflichtig, in Nordrhein-Westfalen wurde die | |
Schulpflicht erst 2005 eingeführt. Während Schüler in Hessen und | |
Baden-Württemberg ein "Antragsrecht" auf Schulbesuch haben, ist ihnen der | |
Zutritt zum Unterricht im Saarland ganz verwehrt. Mit Vehemenz fordert | |
Vernor Muñoz die Bundesregierung auf, ihren Vorbehalt gegen die | |
UN-Kinderrechtskonvention, die auch Kindern von Flüchtlingen ein Recht auf | |
Schulbesuch einräumt, zurückzuziehen. | |
Gegen die Kinderrechtskonvention - die Deutschland mit einem einzelnen | |
Vorbehalt unterzeichnet hat - verstößt auch die frühe Selektion der Kinder. | |
Dies nicht nur, weil sie den theoretisch gleichberechtigten Nachwuchs mit | |
zehn Jahren auf drei Schultypen aufteilt, die sie mit ganz | |
unterschiedlichen Aussichten wieder verlassen. Sondern vor allem, weil es | |
unbeachtet von der Öffentlichkeit noch einen vierten Schultyp gibt, der all | |
die aufnimmt, die niemand haben will und in der nicht einmal ein | |
Pisa-Tester zu Gast war: Sonderschulen, Förderschulen, Schulen für | |
Lernbehinderte. | |
Mehr als 400.000 Schülerinnen und Schüler in Deutschland - Kinder mit | |
Behinderungen, aber auch mit Lernstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten - | |
besuchen eine Schule, über deren Besuch sie nicht freiwillig entscheiden | |
und deren Sackgassen-Status unstrittig ist. Dass ein einfacher | |
Verwaltungsakt Kinder für ihre gesamte Schullaufbahn an eine Sonderschule | |
verweisen darf, ist nur ein Teil des Skandals. | |
Der größere ist, dass die Schulen Orte von Chancenlosigkeit sind: Schüler | |
aus sozial schwachen Familien und Kinder von Zuwanderern sind mit mehr als | |
50 Prozent überrepräsentiert. "Nicht die Menschen müssen sich dem | |
Bildungssystem anpassen, sondern das Bildungssystem den Menschen," setzt | |
der Bildungsrechtler Muñoz dagegen. Diesen Geist atmet auch das Buch. | |
25 Jul 2007 | |
## AUTOREN | |
J. Goddar | |
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