# taz.de -- Boom der Zeitarbeit: Arbeit als Leihgabe | |
> Dass die Arbeitslosenzahl in Deutschland sinkt, liegt auch am Boom der | |
> Zeitarbeit. Einst zum Ausgleich von Auftragsschwankungen geschaffen, | |
> gehört sie heute zum Alltag. | |
Bild: Sprühende Funken, geliehene Arbeiter - eine Eisengießerei in Thüringen. | |
BERLIN taz Für Felix Weitenhagen ist die Sache klar: "Zeitarbeit ist | |
moderne Sklavenarbeit und gehört abgeschafft", sagt der 29-jährige | |
Schlosser. Er ist Betriebsrat in einem Berliner Elektrounternehmen; zum | |
Treffen mit der taz kommt er in einem blauen Arbeitsanzug. Weitenhagen, der | |
noch regelmäßig an kleinen Anti-Hartz-Demonstrationen teilnimmt, setzt sich | |
für seine Leute ein. Auch für Alexander Schuman (Name geändert), den er | |
mitgebracht hat und der in seinem Betrieb als Leiharbeiter beschäftigt ist. | |
Schuman ist 37, wuchs in einer Brandenburger Kleinstadt auf und hat auf dem | |
Bau gelernt. Seit über einem Jahr arbeitet er in der Produktion von | |
Isolierteilen für Hochspannungsschalter. Rund 1.200 Euro bringt er nach | |
Hause. Vorher, als er im selben Unternehmen zeitlich befristet angestellt | |
war, kam er auf 1.500 Euro. "Im nächsten Sommer kriege ich einen | |
Festvertrag, hat mir mein Meister versprochen", sagt er. An das Versprechen | |
glaubt er nicht und klammert sich dennoch daran. Er wirkt müde. Die | |
Nachtschicht hat ihn aus dem Rhythmus gebracht, in ein paar Stunden wird er | |
wieder am Fließband stehen. "Wenn der Vorarbeiter sagt, dass die | |
Leiharbeiter schneller machen sollen, kann ich mir keine Müdigkeit | |
leisten." | |
Die Leiharbeit boomt, wie andere Formen der prekären Beschäftigung auch. | |
Befristete Verträge, Honorar- und Minijobs - eine feste unbefristete Stelle | |
zu bekommen, ist unüblich geworden. Trotz der guten Konjunktur wollen sich | |
viele Firmen nicht festlegen, um ihre Mitarbeiter schnell loswerden zu | |
können, wenn das Geschäft mal schlechter läuft. | |
Die aktuellsten Zahlen der Bundesagentur für Arbeit zum Thema stammen vom | |
Juni vorigen Jahres: 600.000 registrierte Zeitarbeiter waren es damals. | |
Zwischen Mai 2006 und Mai 2007 fanden rund 560.000 Menschen einen neuen | |
Arbeitsplatz - 27 Prozent davon waren Leiharbeiter. Bei 2,3 Prozent aller | |
Beschäftigten handele sich um Zeitarbeit, sagt Ulrich Waschki, der Sprecher | |
der Bundesagentur. Im europäischen Vergleich sei diese Quote noch gering | |
und werde sich weiter anpassen. Einst geschaffen, um Auftragsspitzen in der | |
Produktion abzudecken, tummeln sich Leiharbeiter heute auch in anderen | |
Branchen: in Callcentern, Verlagen, sogar - wie in Berlin - als | |
Erzieherinnen in Kindergärten. Auch Unternehmensberatungen entsenden | |
Managementspezialisten als Leiharbeiter zu ihren Kunden. Und Konzerne | |
gründen Zeitarbeitstöchter, die Leiharbeiter in eigene oder fremde Fabriken | |
schicken. "In meiner Region hat sich im letzten Jahr die Mitarbeiterzahl | |
verdoppelt", sagt Thomas Schmidt, der Betriebsratsvorsitzende des Zwickauer | |
Autovision GmbH, der Zeitarbeitstochter von VW. | |
Besonders stark ist die Zeitarbeit im Osten angestiegen. Bei BMW Leipzig | |
etwa liegt der Anteil bei 30 Prozent. Die Leiharbeiter sind in sämtlichen | |
Bereichen tätig, vom Band bis zum Büro, wie der Jenaer Soziologe Klaus | |
Dörre festgestellt hat. Und Kerstin Schulzendorf, Betriebsrätin bei | |
Infineon in Dresden, klagt, dass die Leiharbeit als "dauerhafte Form | |
eingesetzt" werde und zulasten "regulärer Arbeitsplätze" gehe. | |
Für diesen Boom gibt es zwei Gründe: Zum einen der allgemeine Aufschwung, | |
der dazu führt, dass die Unternehmen mehr produzieren und sich dafür die | |
Dienste von Leiharbeitern kaufen. Der andere Grund ist struktureller Natur. | |
Durch die Novellierung des so genannten Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, | |
die die rot-grüne Bundesregierung im Jahr 2003 beschloss, sei die | |
Leiharbeit erst richtig attraktiv geworden, kritisiert der | |
Bundestagsabgeordnete Werner Dreibus von der Linkspartei. Seither könnten | |
Leiharbeiter unbefristet in einem Betrieb eingesetzt werden. Zudem dürfe | |
ihr Lohn bei gleicher Arbeit von dem der Stammbelegschaft abweichen, wenn | |
entsprechende Tarifverträge existierten. Und mit den Hartz-Gesetzen würden | |
Arbeitslose viel eher dazu gezwungen, schlechter bezahlte und weniger | |
qualifizierte Jobs anzunehmen. In den Jahren 2004 und 2005 sei die | |
Zeitarbeit eher strukturbedingt angestiegen, danach eher konjunkturbedingt, | |
bestätigt auch Thomas Läpple, der Sprecher des Bundesverbandes Zeitarbeit | |
(BZA). | |
Dabei ist für die Betriebe der Einsatz von Leiharbeitern nicht oder nicht | |
wesentlich billiger, weil die Vermittlungsfirma ordentlich kassiert. | |
Dennoch lohnt es sich, weil Leiharbeiter nur geordert und bezahlt werden, | |
wenn man sie braucht. Zudem spart die Firma den Aufwand für Rekrutierung | |
und Verwaltung. | |
"Wir sorgen für die nötige Flexibilität, um Auftragsspitzen abzuarbeiten", | |
sagt BZA-Sprecher Läpple. Dass festangestellte Mitarbeiter ersetzt würden, | |
glaubt er nicht. "Die Unternehmen werden auch künftig gute Mitarbeiter fest | |
an sich binden." Dazu seien sie schon durch die demografische Entwicklung | |
und den Mangel an qualifiziertem Personal gezwungen. Auch Agentur-Sprecher | |
Waschki sieht in der Zeitarbeit Chancen. "Für uns ist sie eine reguläre | |
Beschäftigung" und allemal besser als Arbeitslosigkeit. Zudem gebe es den | |
"Klebeeffekt", das heißt, Zeitarbeiter würden von den Betrieben übernommen, | |
selbst wenn sich dies schwer quantifizieren ließe. | |
Felix Weitenhagen widerspricht dem heftig. "Zeitarbeit schafft keine | |
Arbeitsplätze, sondern vernichtet welche." Denn die Ausweitung der | |
Produktion werde allein durch Leiharbeit bewerkstelligt. In seiner Firma | |
arbeiteten 2.800 Menschen, davon rund 600 Leiharbeiter. Dies spalte auch | |
die Belegschaft. Schuman, der Leiharbeiter, nickt. "Oft fühle ich mich als | |
Arbeiter zweiter Klasse", erzählt er. Die Festangestellten hätten das | |
Sagen, und das ließen sie die Leiharbeiter auch spüren. | |
Betriebsrat Weitenhagen möchte diese Spaltung überwinden. "Wir sind alle | |
Kollegen einer Firma." Das sehen nicht alle Betriebsräte so. Manche | |
betrachten die Leiharbeiter als Konkurrenz, die die Arbeitsnormen erhöhen, | |
andere sehen sie als willkommene Lückenbüßer, die die Stammbelegschaften | |
vor zu hohen Anforderungen schützen. In der Praxis funktioniert dies aber | |
immer weniger, konstatieren viele Betriebsräte. "Die Leiharbeit verschärft | |
die Arbeitshetze, und die Stammbelegschaft gerät unter Druck", sagt | |
Weitenhagen. So seien in seinem Unternehmen die vorgegebene Stückzahl in | |
der Gießerei durch die Leiharbeit erhöht und das Schichtsystem ausgeweitet | |
worden. Und die Leiharbeit berge eine weitere Gefahr: "Die Gewerkschaften | |
verlieren ihre Streikfähigkeit, wenn am Band überwiegen Zeitarbeiter | |
stehen." | |
"Zeitarbeit stellt grundsätzlich keine Bedrohung für Stammarbeitskräfte | |
dar", hält der Zeitarbeitsexperte der Bundesvereinigung der Deutschen | |
Arbeitgeberverbände, Rainer Huke, dem entgegen. So sei die | |
durchschnittliche Verweildauer eines Zeitarbeitnehmers im entleihenden | |
Unternehmen in den letzten Jahren gesunken. Verschärfte Arbeitsbedingungen | |
durch Leiharbeit könne allenfalls in Einzelfällen möglich sein. "In der | |
Fläche ist das nicht zu beobachten." Allerdings könne der Einsatz von | |
Leiharbeitern im Betrieb durchaus zu Spannungen führen, räumt er ein. | |
Zeitarbeiter seien meist hochmotiviert, da sie auf eine Festanstellung | |
hofften. Dies könnten Stammkräfte als Bedrohung empfinden. "Unternehmen | |
können das aber nicht bewusst steuern." | |
Die Leiharbeit verschärft die Arbeitsbedingungen, meint hingegen Rainer | |
Butenschön. Er ist Betriebsratsvorsitzender bei der Verlagsgruppe Madsack | |
aus Hannover. In der Medienbranche boome die prekäre Beschäftigung, auch | |
die um ein Drittel schlechter bezahlte Leiharbeit. Die Kollegen versuchten | |
sich anzupassen und verlören dadurch ihre journalistische Unabhängigkeit. | |
Es herrsche "ein Klima der Angst." | |
"Schon eine geringe Anzahl von Zeitarbeitern hat einen disziplinierenden | |
Effekt auf die Stammbelegschaften", ergänzt Beate Voigt. Seit 1990 ist sie | |
Leiharbeiterin und mittlerweile Betriebsrätin der Region Ost der | |
Zeitarbeitsfirma Randstad. Für die Zeitarbeiter hat sie ein Ziel: "Gleicher | |
Lohn für gleiche Arbeit zu gleichen Bedingungen." Sinnvoll dafür sei ein | |
Mindestlohn. "Der kann zwar keine Niedriglöhne verhindern, aber wenigsten | |
eine Haltelinie ziehen." Von einer Befristung der Einsatzzeiten verspricht | |
sie sich allerdings nichts: "Dann würden sich nur die Zeitarbeiter die | |
Klinke in die Hand geben." | |
Leiharbeiter Schuman würde eine solche Regelung begrüßen. Dann hätte er | |
eher Chancen auf einen festen Job, glaubt er. Er will aus seiner Wohnung | |
ausziehen, die er ein "Loch in Neukölln" nennt, findet aber keine neue | |
Wohnung. "Die Vermieter wollen sehen, dass man eine richtige Arbeit hat." | |
14 Aug 2007 | |
## AUTOREN | |
Richard Rother | |
## TAGS | |
Arbeitsbedingungen | |
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