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# taz.de -- Mitmach-Musikprojekt: "Nett ist die kleine Schwester von Scheiße"
> Die Musiker Erobique und Jacques Palminger haben ein komisch ergreifendes
> Laien-Musikprojekt gestartet. Jetzt erscheinen die Songs auf CD.
Bild: Das ist Erobique. Einer der Initiatoren von "Songs for Joy".
Es war eine unverdächtige Anzeige, die vor einem Jahr in der Berliner
Presse geschaltet wurde. "Lieben Sie Musik? Singen Sie gern? Dann schicken
Sie uns Ihren Text!" Zeitgleich fahndete man im Lokalradio nach "Songs for
Joy", Oden an die Freude. Ludwig Van wird in seinem Heldengrab herumgerollt
sein, sich dann aber vielleicht von dem schmeichelnden Radio-Jingle wieder
haben besänftigen lassen. Von "Liebe und Spaß ohne Peinlichkeit und Hass"
war darin die Rede. Die Hintermänner dieser merkwürdigen Kampagne planten
indes keinen Sozialporno auf Verstehen-Sie-Spaß?-Niveau.
Nein, es ging ihnen um guten, ethisch absolut sauberen Spaß. Und den ist
man von Hamburgs Carsten "Erobique" Meyer, Jacques Palminger und Chris
Dietermann auch gewohnt.
Melodiefuchs Meyer, auch bekannt als Keyboarder der souligen
Chaotenravertruppe International Pony, kennt die großen Hooklines alle
auswendig und weiß magische Momente nötigenfalls auch spontan
hervorzuzaubern. Für diese Momente wiederum ist Jacques Palminger sowieso
Sinnbild. Der Mann des bewusstseinserweiternden Worts kommt vom
poststrukturellen Humorfach (u. a. Studio Braun, Charles-Bronson-Abende).
Zudem spielt er auf Zuruf sessionmäßig Schlagzeug. Eine Profession, die er
schon in den speedigen Achtzigern bei den Waltons in Westberlin, in
späteren Jahrzehnten auch bei Universal Gonzalez, dort vor allem mit dem
stillen, aber umtriebigen Gitarristen Chris Dietermann, dem Dritten im
Bunde, ausübte.
Jedenfalls strömten die von Print und Funk animierten Musiklaien und
Hobbytexter im letzten Jahr haufenweise zur Anlaufstelle, dem Berliner
Maxim Gorki Theater. Obwohl: Eigentlich habe niemand gewusst, mit wem sie
es da dann zu tun bekamen, erzählen die drei. Aber zu befürchten habe es ja
auch nichts gegeben: Das Musikertrio amtete nicht als Jury. Wer wollte,
durfte seine Texte selbst singen, sich beim Songarrangement beteiligen oder
auch mitspielen. "Da tauchten wildfremde Leute auf und schütteten uns ihr
Herz und ihre Seele in den Songtexten aus. Und wir machten mit Hingabe dazu
Musik", erklärt Carsten Meyer. "Vorbilder für diese Aktion gibt es in dem
Sinne nicht, aber wir fanden Parallelen zur amerikanischen
Song-Poem-Bewegung", erinnert sich Palminger.
Songpoems entstanden in den USA vor allem zwischen 1950 und 1970. Im
Kleingedrucktem von Comic-Heftchen baten Scheinfirmen damals um die
Zusendung von Texten zur Veröffentlichung auf Schallplatten und versprachen
das Blaue vom Himmel. In Wahrheit aber wurden die eingesandten Texte von
Studiomuckern in Mammutsessions eingespielt und direkt auf Vinyl gepresst.
Die Texter bezahlten dafür und bekamen als Gegenleistung einen Karton
Schallplatten. Diese landeten meist, wenn nicht sofort im Müll, später als
coverlose Abzocke-Reste auf Flohmärkten.
Anders als bei den obskuren Songpoems blieben die Entstehungsbedingungen im
Gorki Theater transparent. Das, was jetzt auf einer CD zusammengefasst
gelandet ist, kam innerhalb von zwei Wochen zustande. Auch hatten die
Texter keinerlei Kosten zu tragen. Und weniger Mühe als die Musiker, die
sich gehörig beeilen mussten: Zwei Stunden blieben im Durchschnitt zum
Einspielen eines Songs - da sei Einfühlungsvermögen gefragt gewesen, so
Meyer. Natürlich entstand die Musik nicht im geschmacksfreien Raum. "Wir
als Band hatten uns vorab auf alles geeinigt, was Soul und schöne Melodien
hat", beschreibt er die Präliminarien. In der Hektik der Aufnahmen konnten
auch keine Detailfragen mehr ausdiskutiert werden. Und trotzdem sei das
Songwriting nicht der härteste Teil der Übung gewesen: Autoren und Sänger,
"vergraben unter einem Berg Schüchternheit", mussten bisweilen mit großen
Überredungskünsten an die Idee herangeführt werden, die entstehende Musik
später live im Theater aufzuführen.
"Alle 22 damals entstandenen Songs sind jetzt auf der CD", verkündet
Schlagzeuger Jacques Palminger heute stolz. "Wir hätten auch 15 auswählen
können. Es war aber eine demokratische Veranstaltung, und die wollten wir
genau so dokumentieren." Er schwärmt weiter: "Meine Freude ist die
Zustimmung zu scheinbar belanglosen Texten. Darin eine Tiefe zu sehen und
sie hörbar zu machen, ist die wichtigste Aufgabe." Und das klingt dann so:
"Ich hab jemand gesehen / der mich an dich erinnert / bevor du bekannt
wurdest / ich wünschte / du wärst so geblieben" textet Lisa-Marie Janke in
"Lieder von heute". Senia Hasivecic singt dazu - an einem Abend wurde sie
direkt aus dem Theaterpublikum heraus verpflichtet. Angeschoben von einem
kratzigen Bossa-Nova-Rhythmus, schlurft die Musik den Text
sanft-melancholisch nach Hause.
Auch andere Text- und Musikkombinationen wurden gewinnbringend gelöst. Eine
Danksagung an die Familie tänzelt zum glitzernden Beat der Munich-Disco,
was dem Text durchaus queeren Interpretationsspielraum verleiht. Die
Northern-Soul-Protestnote gegen die Einsamkeit appelliert dagegen
unzweifelhaft an das Bauchgefühl. Natürlich ist nicht jeder Song ein
Treffer. "Nett (ist die kleine Schwester von Scheiße)" von Anika Baumann
aber schon. Der müsste in einer gerechten Welt wochenlang an der Spitze der
Charts stehen.
Various Artists: "Songs for Joy" (Nobistor Records). Ab dem 1. 10. sind die
drei Musiker erneut für zwei Wochen im Berliner Gorki Theater und vertonen
neues Material. Am 6. und 13. 10. werden die Ergebnisse live präsentiert.
28 Sep 2007
## AUTOREN
Julian Weber
Julian Weber
## TAGS
Erobique
Erobique
Disco
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