# taz.de -- Schriftsteller gegen Islamismus: Das unbequeme Gewissen Algeriens | |
> Die Bomben in Algerien richten sich gegen unabhängige Köpfe wie den | |
> Schriftsteller Boualem Sansal. Er schreibt über staatliche Gewalt und | |
> Korruption sowie religiöses Spinnertum. | |
Bild: Schrieb, um die Gewaltexzesse um sich herum zu verkraften: Boualem Sansal. | |
Boualem Sansal genießt diese kleine Fluchten. Sicher lenkt er seinen alten | |
Wagen durch die hochgelegenen Stadtteile Algiers. Zu Fuß geht der | |
57-jährige Schriftsteller nur noch ungern, seit der Terror seine Heimat | |
Algerien in den 90er-Jahren heimgesucht hat. Sansal war damals ein hoher | |
Beamter im Industrieministerium. Und als solcher war es nicht | |
empfehlenswert, ungeschützt durch die Stadt zu laufen. | |
"Die Straßen waren unsicher. Die Züge ebenfalls", erinnert sich der ruhige | |
weißhaarige Mann. Oft konnte er nicht einmal mehr zur Arbeit. Er blieb in | |
seiner Wohnung in Boumerdès, einer bis heute unsicheren Kleinstadt, 50 | |
Kilometer östlich von Algier. "Sirenen, Schüsse, Explosionen, Massaker in | |
den Dörfern rundherum, Autobomben in der Hauptstadt Was macht man in einer | |
solchen Situation, in der man nicht mehr lebt?" Sansal begann zu schreiben. | |
"Exorzismus" nennt er diese fast schon zwanghafte Flucht in die Literatur, | |
die mittlerweile vier Romane hervorgebracht hat. | |
"Seither ist viel Blut den Fluss hinuntergeflossen und Ozeane von | |
Bitterkeit durch die Herzen", konstatiert Sansal in seinem jüngsten Buch, | |
"Harraga", das gerade auf Deutsch erschienen ist. Und immer noch sind die | |
Erinnerungen schmerzhaft lebendig. "Harraga" - so werden auf Algerisch | |
diejenigen genannt, die illegal auswandern - beschreibt, anders als die | |
ersten drei Romane, nicht nur das Chaos ringsherum, sondern lässt auch | |
einen tiefen Blick in das Innenleben des Autors, in jene dunkle Zeit zu, | |
als er isoliert mitten im Bürgerkriegsgebiet das Schreiben begann. | |
Mit der Figur der Krankenschwester Lamia schafft Sansal ein Spiegelbild | |
seiner selbst, seiner Angst, Depression und Verzweiflung. "Hart ist die | |
Einsamkeit für den, der nicht bis zu den Zähnen bewaffnet ist. Ich habe | |
gelernt, das Beste daraus zu machen, ich kann meine Tage mit nichts füllen, | |
Stille, Träumen, Reisen in der vierten Dimension ", lässt der | |
Schriftsteller sein Alter Ego sagen. "Ich liebe es, mich zu extravaganten | |
Träumen aufzuschwingen, in parallele Leben zu schlüpfen, die einfach so aus | |
dem Schnurren der Nacht, aus der Feuchtigkeit des Bettes auftauchten, und | |
dorthin aufzubrechen, wo Dinge enden, wo das wahre Leben beginnt." | |
Der Autor beobachtet genau und bedient sich dabei eines Realismus, gepaart | |
mit Fantasie und Magie, der dem Stil der Großen aus Lateinamerika ähnelt. | |
"Sansal hat den Weg des Widerstands gewählt, den er von Buch zu Buch mit | |
einer kraftvollen, großzügigen und zutiefst menschlichen Sprache | |
weitergeht. Zu unserer großen Freude", urteilt die wichtigste französische | |
Tageszeitung Le Monde über den letzten bekannten algerischen Autor, der | |
nicht im Exil lebt. | |
Sansal, in Frankreich von dem prestigereichen Verlag Gallimard | |
veröffentlicht, wird als Erneuerer jener Sprache gefeiert, die der | |
algerische Schriftsteller Kateb Yacine einst als "Kriegsbeute" bezeichnet. | |
"Der Schwur der Barbaren", das 1999 verlegte Erstlingswerk des heute | |
58-jährigen Sansal, wurde preisgekrönt. | |
Alle seine Bücher sind wie "Harraga" als Satiren zu verstehen, zynische | |
Gemälde einer Gesellschaft voller Korruption, Gewalt und Lügen. Es ist | |
"eine Welt, die keinen Glauben, die keine Werte mehr hat, die sich nur noch | |
darauf versteht, auf ihre Dummheit und Entwürdigung stolz zu sein", | |
schreibt Sansal über sein Algerien, das er - wie die Romangestalt Lamia - | |
so sehr liebt, aber doch längst verloren hat. Die literarische Kritik kennt | |
keine Tabus. Sansal rechnet unerbittlich mit "Polizeidiktatur, Bürokratie | |
und Frömmlern" ab. Denn "Opposition bedeutet nicht nur Opposition gegenüber | |
dem Regime, sondern auch gegenüber den Gesetzen, dem Propheten und selbst | |
gegenüber Gott. Opposition ist Opposition gegenüber allem." | |
Distanz zum Regime | |
Als Sohn einer alleinerziehenden Mutter - sein Vater starb bei einem | |
Autounfall, als Sansal ein Jahr alt war - wuchs der kleine Boualem in | |
Algier heran, in dem einst multikulturellen und multireligiösen Stadtteil | |
Belcourt, der Heimat des algerofranzösischen Literaturnobelpreisträgers | |
Albert Camus, aber auch des Führers der Islamischen Heilsfront (FIS), | |
Abassi Madani. | |
Als Sansal fünf Jahre alt war, versank seine Welt ein erstes Mal in | |
Schrecken und Gewalt. Der Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich begann. Er | |
endete, als Sansal 13 war. Anders als die meisten seiner Kommilitonen trat | |
Sansal im neuen Algerien weder der Studentenorganisation des | |
Einheitsregimes noch der alles dominierenden Front de Libération National | |
(FLN) bei. "Ich stand von jeher in intellektueller Distanz zum Regime." | |
Sansal wurde Ingenieur. Im Laufe der Jahre bringt er es bis zum Direktor | |
einer Abteilung im Industrieministerium. 2003 wird er entlassen. Zu | |
kritisch sind seine mittlerweile auch öffentlich bekannten Äußerungen. | |
In "Harraga" wie auch in seinen früheren Romanen beschreibt Sansal die | |
Schizophrenie seines Landes mit einer Mischung aus für Algerier | |
überlebenswichtigem Humor, Zynismus und Wut. Es ist ein Land in der Hand | |
der Militärs und ihrer Geheimdienste. Aber auch ein Land, in dem "es nicht | |
an Predigern fehlt". Für Sansal wird das meiste "von oben" diktiert, auch | |
rückblickend in der Geschichte. Der offizielle Nationalismus mit seinen | |
Mythen aus der Zeit des Unabhängigkeitskriegs gegen Frankreich ist zur | |
"Chronik eines Alibis" verkommen, um Korruption, den Staatsstreich kurz | |
nach der Unabhängigkeit, Raub und Mord zu entschuldigen. "Die Karten wurden | |
falsch gegeben, der finsterste Islam und der bekloppteste Modernismus | |
machen sich Phrasen und Initiativen streitig." Wer nicht versucht | |
wegzukommen, wendet sich nach innen. | |
"Gott, wo sind wir nach all den Jahren des Schweigens?", fragt Sansal seine | |
Landsleute in seinem politischsten Werk "Poste restante: Alger" - | |
"Postlagernd Algier" -, das vor einem Jahr in Frankreich erschien. Das | |
dünne Bändchen ist eine Streitschrift in guter alter französischer | |
Tradition. Sansals ganz persönliches "Jaccuse" ist Liebesbrief und | |
Wutausbruch zugleich und vor allem ein Ruf an die Algerier, endlich | |
aufzuwachen. | |
"Im Grunde haben wir nie die Gelegenheit gehabt, miteinander zu reden. () | |
Dabei haben wir uns so viel zu sagen über unser Land mit seiner | |
verfälschten Geschichte, seiner kaputten, verwüsteten Gegenwart, seiner | |
verpfändeten Zukunft, über uns selbst, gefangen im Netz der Diktatur unter | |
dem Knüppel der Ideologie und Religion, desillusioniert bis zum | |
Angeekeltsein, und über unsere Kinder, die Ersten, die von so einem Regime | |
bedroht werden." | |
Appell an die Landsleute | |
Sansal glaubt nicht an die Politik der Aussöhnung von Präsident Abdelasis | |
Bouteflika. "Unsere Stimmen wurden beschlagnahmt, um diejenigen zu | |
amnestieren, die bis heute nichts als Leid gebracht haben", schreibt er | |
über das Referendum, durch das sich das Regime die Amnestie hat absegnen | |
lassen. "Die Urnen wurden manipuliert, aber warum haben wir nicht reagiert? | |
Eine Massenamnestie für neurotische Islamisten und das Weißwaschen | |
skrupelloser Hintermänner im Staatsapparat sind schließlich etwas anderes, | |
als einen aufgezwungenen Präsidenten zu wählen. Die Urnen haben dazu | |
gedient, die schmutzigen Flecken auf der Wäsche der regierenden Clans zu | |
entfernen ", sagte Sansal in einem Appell an seine "lieben Landsleute" und | |
warnte vor den Folgen: "Unsere Kinder gehen, wie man ein sinkendes Schiff | |
verlässt." Viele sterben dabei, wie er in "Harraga" beweint. | |
Längst gilt der streitbare Schriftsteller in Algerien als Persona ingrata. | |
Die einst selbst oppositionelle Kulturministerin Khalida Toumi (Messaoudi | |
bis zu ihrer Scheidung) hat ihm in aller Öffentlichkeit in der Schweiz auf | |
der Buchmesse in Genf das Wort entzogen. Seine Schrift "Poste restante: | |
Alger" darf nicht nach Algerien eingeführt oder dort vertrieben werden. | |
Auch "Harraga" und die anderen seiner Romane sind nur schwer in algerischen | |
Buchläden zu finden. "Wer von Bedrohung spricht, denkt leise und heimlich | |
an die Regierung", lässt Sansal die Romanfigur Lamia sagen. Ob er selbst | |
Angst habe? "Sicher. Es ist leicht, einen Kleinkriminellen anzuheuern, | |
damit er jemanden auf offener Straße anpöbelt und das Messer zieht", | |
antwortet Sansal. Weg von hier wie die Jugendlichen in seinem Roman | |
"Harraga"? Nein, weg will er nicht. Auch wenn er längst die Hoffnung auf | |
eine Zukunft für Menschen wie ihn in Algerien verloren hat. "Heftige Kritik | |
kann man nicht glaubwürdig vom Ausland aus üben", sagt Sansal mit sicherer | |
Stimme, bevor er die Rundfahrt auf den Höhen Algiers beendet. Zurück geht | |
es nach Boumerdès, dem Ort seines inneren Exils, aus dem er hoffentlich | |
auch künftig schreibend ausbrechen wird. | |
13 Dec 2007 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
Reiner Wandler | |
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Literatur | |
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