| # taz.de -- Eine Straße im Niedergang: Der Potsdamer-Straßen-Blues | |
| > Die Redaktion des Tagesspiegel verlässt die Potsdamer Straße. Die meisten | |
| > Anwohner nehmen es gelassen. Aber manche werden melancholisch. | |
| Bild: Bei den Protesten gegen die Verdrängung von Potse und Drugstore | |
| Von der Potsdamer Brücke aus leuchtet das Wort "Dionysos" in Blau in den | |
| dunklen Abendhimmel der südlichen Potsdamer Straße. Dazu prangt auf einem | |
| der 70er-Jahre-Wohnhäuser groß "McDonalds" mit seinem "M" in passendem | |
| Gelb. Im Hintergrund aber erkennt man, fast schon erloschen, die neongraue | |
| Leuchtschrift "DER TAGESSPIEGEL". | |
| Wer von der Brücke aus die Potsdamer Straße hinaufblickt, wird nicht gerade | |
| von blinkenden Botschaften erschlagen. Trotzdem sagt ein Mann vom Varieté | |
| "Wintergarten", der sich schlangenmenschgleich hinterm Souvenirtresen des | |
| Unterhaltungstempels bewegt, die Straße sei ein Broadway. Nein, er zieht | |
| nur in Erwägung, dass es einer sein könnte. "Denn einen Broadway braucht | |
| Berlin", sagt er. "Entweder es ist der Kudamm oder die Potse." Aus dem | |
| Bühnenraum dringt Vorabendvorstellungsapplaus. Und am Tresen im Foyer | |
| prosten sich zwei weißhaarige Damen gut gelaunt mit Sekt zu. | |
| Mehr Dionysos, mehr Gott des Weins, der Freude, der Fruchtbarkeit, der | |
| Ekstase als im Wintergarten gibt es auf der Potsdamer Straße nicht. Eher | |
| schon findet man das, was dem Jüngsten unter den griechischen Göttern noch | |
| anhängt: Weil sein Gefolge so laut war, heißt er nämlich auch Bromios, der | |
| Lärmer, oder Bakchos, der Rufer. Das passt zur | |
| Potsdamer-Straßen-Wirklichkeit mit dem ewig brummenden Verkehr. | |
| Mitten in diesen großstädtischen Minimalismus platzte vor kurzem die | |
| Nachricht, dass der Tagesspiegel wegzieht. Zum Jahreswechsel 2008/2009 soll | |
| die neue Adresse des Westberliner Traditionsblattes der Askanische Platz am | |
| Anhalter Bahnhof sein. "Ich meine, verstehen kann ichs. Der Kasten sieht | |
| innen ja aus wie ne Ruine", sagt Georg Behrendt von Schilder-Behrendt. Das | |
| ist ein Geschäft, in dem man Leuchtwerbung kaufen kann, was kaum jemand an | |
| der Potsdamer Straße tut. Gegenüber dem Tagesspiegel ist der Laden, der | |
| inzwischen in dritter Generation betrieben wird. "Mein Großvater sagte | |
| immer: Nur der Wechsel ist beständig. Ich bin 40 Jahre hier und habe einige | |
| gehen sehen." Mit solchen Sätzen spricht man sich Mut zu. "Ist das denn | |
| wirklich sicher, dass die gehen?", hakt er dann doch nach. "Jeder, der | |
| geht, wird bedauert." | |
| Der Potsdamer Straße jedenfalls werde das nicht guttun. Behrendt zeigt in | |
| Richtung Kurfürstenstraße, dorthin, wo es derzeit Ärger gibt wegen des | |
| Straßenstrichs und des geplanten Laufhauses. Die Familie Behrendt hatte | |
| früher auch ein Geschäft in der Frankfurter Bahnhofstraße, dem | |
| Rotlichtbezirk. "Die Kunden blieben weg, wegen der Fixer und dem ganzen | |
| Drumrum." | |
| "So so, der Tagesspiegel zieht weg", sagt auch der weißhaarige Mann | |
| skeptisch, der einen Kinderwagen schiebt, in dem sein Enkel liegt. Sieben | |
| Monate ist der alt. An der Hand hat er einen Dreijährigen dazu. 1968 kam er | |
| aus Kroatien nach Berlin. Seither lebt er an der Potsdamer Straße. "Bis zur | |
| Wende wars lebendig", sagt der frühere Dreher, der bei Siemens gearbeitet | |
| hat, und zeigt auf ein leer stehendes Geschäft. "Da war mal ne Drogerie | |
| drin." Dann zeigt er auf den nächsten Laden. "Da, wo die Künstler jetzt | |
| sind, war ein Textilgeschäft. Und da drüben ein Grieche." Dass früher in | |
| jedem zweiten Haus eine Kneipe war oder ein Bordell, fällt ihm auch wieder | |
| ein. Er jedenfalls wohnte mit vielen anderen Gastarbeitern in einem Zimmer. | |
| Später hat sich der Deutschkroate hier eine eigene Wohnung gemietet. "Vier | |
| Meter hoch die Wände. Wegziehen will ich trotzdem nicht mehr. Ich hab hier | |
| doch alles." Er wirkt ein wenig verloren auf dem Trottoir vor den | |
| eingerüsteten Häusern mit seinen zwei Enkeln, die neugierig in die Nacht | |
| blicken. "Das Gerüst steht auch schon ewig." | |
| Läuft man weiter, kommt man an verhangenen Schaufenstern und vergitterten | |
| Toren, an Plattenbauten, deren marmorverkleidete Erdgeschosse bröckeln, und | |
| an roten Sicherheitstüren vorbei, vor denen sich Straßendreck und | |
| Zigarettenkippen sammeln. Gerade genug, um zu erkennen, dass die Türen | |
| schon eine Weile nicht mehr geöffnet wurden. Ein Haus weiter kommt das | |
| "Hotel am Potsdamer Platz", dessen Foyer verraucht und farblos wirkt. "Ich | |
| muss meine Abrechnungen machen", winkt der Portier ab. Zeit, sich der | |
| Potsdamer-Straßen-Melancholie hinzugeben, hat er nicht. | |
| Ganz anders Ivan Tokic vom Dalmacija-Grill nebenan. Dunkle Möbel geben | |
| seinen Restaurant atmosphärische Schwere. Der groß gewachsene Tokic schafft | |
| es jedoch, das Ambiente mit "Darfs noch etwas mehr sein?" und "Wollen wir | |
| mit der Bestellung auf die Frau Gemahlin warten?" aufzuhellen. Selbst wenn | |
| er aufzählt, wer alles schon weggezogen ist in den 30 Jahren, die er an der | |
| Potsdamer Straße kroatische Küche serviert, klingt er charmant: "Dresdener | |
| Bank weg. Köpenicker Bank weg. Der Falk-Verlag weg. Die | |
| Ausländerbeauftragte weg. Die Zweite Hand und der Tip weg. Die | |
| Gotha-Versicherung weg. Wegert weg. Alles, was gut ist, ist weg. Wenn die | |
| Hotels nicht wären, wär ich vielleicht auch schon weg." | |
| Bis jetzt ist er geblieben. Wie auch der kroatische Großvater, der mit | |
| seinen zwei Enkeln auf der Potsdamer Straße flaniert. Er kennt ihn. "Dem | |
| ist die Frau an Krebs gestorben. Manchmal ist er mein Gast." | |
| Eine ältere Frau betritt das Lokal und erstattet Tokic genauen Bericht über | |
| den Gesundheitszustand von Pumpen-Schulze. "Das ist mein ältester Gast. 103 | |
| ist er geworden. Sie ist seine Freundin", klärt der Wirt später auf. Sein | |
| Restaurant ist Anlaufstelle für die, die durchhalten. Die gerne in den | |
| großbürgerlichen Altbauten wohnen, die zwischen der bröckelnden | |
| Nachkriegsarchitektur stehen, ohne dass der Luxus auffällt, den sie bieten. | |
| Neben Pfennigläden und versteckt hinter Schildern, wo "Büro-Gewerbeflächen | |
| zu vermieten. Provisionsfrei" draufsteht, lässt es sich leicht in einen | |
| Dornröschenschlaf sinken. | |
| Ein paar Häuser weiter ist das Geschäft von Veysel Senocak. Er verkauft | |
| Kochherde, Espressomaschinen, Stühle - alles, was man für die Gastronomie | |
| braucht. Der Tagesspiegel weg? Er zuckt mit den Schultern. "In den vier | |
| Jahren, in denen ich hier bin, hab ich an die zwei Dosen | |
| Edelstahlreinigungsspray verkauft." Hätten sie ihn die Kantine einrichten | |
| lassen, könnte er tiefer fühlen. Richtiges Entsetzen will auch bei | |
| Fortuna-Wetten, im An- und Verkaufsladen und bei MäcGeiz, im Nagel-Studio, | |
| beim Instant-Friseur und im Tattoo-Shop nicht aufkommen. Auch der | |
| Devotionalienladen "Ave Maria" und der Import-Export-Shop spürten bisher | |
| wenig vom großen Nachbarn. "Rosenkränze kaufen die nicht." Gebetsketten | |
| wohl ebenfalls nicht. | |
| Wirklich schockiert indes ist Michael Prochnow. Erst vor einer halben | |
| Stunde hat der Inhaber des Schreibwarengeschäfts neben dem Tagesspiegel | |
| erfahren, dass der Zeitungsverlag geht. Der Laden, den er von den | |
| Nachfahren von Vincenz Sala vor 20 Jahren übernommen hat, strahlt trotz | |
| grell-pastelliger Ringbücher und Servietten mit Weihnachtssternen noch | |
| immer das Flair eines Traditionsgeschäfts aus. In den alten Holzregalen, | |
| die bis unter die Decke reichen, stehen Schachteln mit Nummern drauf. So | |
| wurden Formulare gelagert. Es wirkt, als hätte schon länger niemand etwas | |
| herausgezogen. Wie um diesen Eindruck zu widerlegen, erzählt der muskulöse | |
| Mann: "Neulich bin für 50 Euro sogar alte Rechnungsbücher losgeworden, die | |
| noch auf das letzte Jahrhundert datiert waren." Eine der Medienfirmen, die | |
| sich, wie man sagt, in der Potsdamer Straße ansiedeln, von denen man aber | |
| kaum etwas sieht, hat sie für Filmaufnahmen gebraucht. | |
| Dass die Nachricht vom Wegzug des Tagesspiegel noch so frisch ist, macht | |
| Prochnow schutzlos. Was soll er dazu auch schon sagen? "Die BVG zieht | |
| angeblich auch weg. Der Letzte macht das Licht aus." Er will es nicht sein. | |
| Mit dem Vermieter wird er sprechen, aber der sei mit der Miete schon mal | |
| runter. "Da bemühen sich nun so viele Leute um die Potsdamer Straße, das | |
| Quartiersmanagement und die IG Potsdamer Straße, und dann geht, wer dem | |
| Kiez noch Halt gibt", seufzt er. Ihm jedenfalls werden sehr viele Kunden | |
| wegbrechen. Da ist er sich ganz sicher. "Hören Sie, die halbe | |
| Tagesspiegel-Belegschaft spielt doch bei mir Lotto." | |
| 19 Dec 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| Waltraud Schwab | |
| Waltraud Schwab | |
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