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# taz.de -- 1968er Glossar: Von der Funktion des Orgasmus
> Kennen Sie die Fokustheorie? Vielleicht die Haschrebellen? Wissen Sie,
> was mit Bewusstseinserweiterung gemeint ist? Eine Zusammenstellung von
> Begriffen, die 68 eine Rolle spielten.
Bild: Situationismus, Sexfront, Randgruppenstrategie - worüber Studenten 1968 …
Antiautoritär: Ein Wort, das im Zusammenhang mit Sozialismus theoretisch
rasch zu den Akten gelegt wurde, im Hinblick auf erzieherische
Vorstellungen und solchen zum gesellschaftlichen Zusammenleben überhaupt
erlangte es Popularität, vor allem mit Beginn der Siebzigerjahre. Nichts
schien dem deutschen Spießer unheimlicher und würdiger der Kritik, als a.
für unmöglich zu halten. Schriften von Alexander S. Neill über das von ihm
gegründete Internat im britischen Summerhill waren gerade unter Schülern
vielgelesen. Bloß kein Kommisston mehr. A. war das Gegenteil vom
Soldatischen, von bedingungslosem Befehl und Gehorsam.
APO: Die Außerparlamentarische Opposition, kurz: APO, entwickelte sich
gegen die seit 1966 regierende ->große Koalition von CDU und SPD und die
von der damaligen Regierung geplanten ->Notstandsgesetze. Begünstigt wurde
sie durch das Frontdenken des Kalten Kriegs und eine als Kapitalismuskritik
verstandene Ideologie, nach der der kapitalistische Staat und seine
Institutionen fest in der Hand der Besitzenden seien. Im Parlament schien
ob der relativ kleinen FDP tatsächlich eine nennenswerte parlamentarische
Kontrolle der Regierung Kiesinger zu fehlen. Auch das Verbot der
Kommunistischen Partei Deutschlands 1956 hatte zu dem Eindruck beigetragen,
in der Bundesrepublik sei die linke Kritik von der Demokratie weitgehend
ausgeschlossen. 1963 bis 1966 öffneten die beiden Frankfurter
Auschwitz-Prozesse zudem der heranwachsenden Jugend die Augen über die
zumeist verschwiegenen NS-Verbrechen der älteren Generation. Die APO hatte
ihre Hochburgen vor allen an den westdeutschen Universitäten. Dort
rebellierten die im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS)
zusammengefasste Ausbildungselite des Landes und gründete 1967/68 die
Kritische Universität. Die APO stützte sich auf Denker des westlichen
Marxismus, der ->Kritischen Theorie sowie des französischen
->Existenzialismus, aber auch auf Spiritualität, Pop und ->Hippietum.
Autoritärer Charakter: Das Konzept geht im Wesentlichen auf den
Psychoanalytiker und Philosophen Erich Fromm (1900-1980) zurück, wurde dann
vom Mitbegründer der ->Kritischen Theorie, Theodor W. Adorno,
fortentwickelt. Danach fügt sich der a. C. fraglos in gesellschaftliche
Hirarchien ein, weil er sich nicht mit seiner Nichtigkeit und Ohnmacht
konfrontiert sehen will. Literarisches Beispiel: "Der Untertan" von
Heinrich Mann.
Beatnik: Als Beatniks firmiert eine Strömung der US-Literatur nach dem
Zweiten Weltkrieg. Bekannte Vertreter waren Allen Ginsberg, William
S.Burroughs oder Jack Kerouac. Die wichtigsten literarischen Werke waren
Kerouacs "On the Road", das Gedicht "Howl", das Allen Ginsberg 1955 beim
Six Gallery reading vorstellte und "Naked Lunch" von William S. Burroughs.
"Howl" und "Naked Lunch" standen wegen ihrer angeblichen Obszönität im
Mittelpunkt der öffentlichen Empörung. Nach Freisprüchen vor Gericht setzte
sich in den USA der späten 1950er allmählich eine freizügigere
Publikationspraxis durch.
Bewusstseinserweiterung: Absicht und Ziel jener Bewegung, die unter der
Chiffre 68 verhandelt wird. Die einen, eher politisch orientiert, verstehen
darunter ein Leben als stetige Schulung der politischen Ökonomie, also das
immer klarere Wissen um die grundsätzliche Misere dessen, was Kapitalismus
ist; die anderen begriffen B. als Credo, mit allerlei Trips und Tricks das,
was sie im Körper für verborgen, ja gedeckelt halten, zu befreien. Alle
modernen Körpertherapien (Gestalt, Reiki, Rolfing et al.) leben von diesem
Unterfutter der Absicht, es zu einer B. kommen zu lassen; B. kann als
Zaubervokabel nicht verstanden werden, sofern nicht Techniken der
Beschwörung (Mantra) und des Drogenkonsums bedacht werden. Haschisch,
Marihuana ("Dope") und etlich anderes haben gerade in hippiesken Zirkeln
stark an Beliebtheit gewonnen.
Davis, Angela: Am 26. Januar 1944 geboren, kreierte unter anderem den
"Afro-Look". D. war und ist eine Repräsentantin des schwarzen Amerika. Ihr
war 1970 die indirekte Beteiligung an einem tödlich endenden
Befreiungsversuch von afroamerikanischen Gefangenen aus einem
kalifornischen Gerichtssaal vorgeworfen worden. D., damals junge
Hochschulprofessorin und Mitglied der Kommunistischen Partei der USA ,
wanderte auf die FBI-Liste der "Zehn Meistgesuchten". Sie kam für 16 Monate
in Untersuchungshaft, nach zwei Jahren wurde sie dann aber in allen Punkten
freigesprochen.
Dialektik der Aufklärung: Das schmale Bändchen Theodor W. Adornos und Max
Horkheimers wurde 1944 unter dem Titel "Philosophische Fragmente" in den
USA erstveröffentlicht. Nach Ihrer Rückkehr aus dem US-amerikanischen Exil
vermieden die beiden Köpfe der Frankfurter Schule eine Publikation in der
Bundesrepublik. In den 1960er-Jahren kursierte die Schrift als Raubdruck
unter politisierten Studentenzirkeln. 1969 folgte endlich die deutsche
Neuausgabe. Adorno und Horkheimer hatten die "Dialektik der Aufklärung" vor
dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen verfasst. Sie
betrachteten zu dieser Zeit das Projekt der Aufklärung für gescheitert und
sahen in Kapitalismus, dem Zusammenspiel von Kulturindustrie und
faschistischen Ideologien den Grund für den "Zusammenbruch der bürgerlichen
Zivilisation" und der "neuen Art von Barbarei".
Dutschke, Rudi: Geboren 1940 in Luckenwalde, war Dutschke der unumstrittene
Anführer des Berliner SDS und die charismatischste Figur der
bundesdeutschen ->APO. Im April 1968 schoss ihn der von der Lektüre der
Bild-Zeitung aufgehetzte Josef Bachmann in den Kopf. An den Spätfolgen des
Attentats starb Dutschke 1979. Dutschke vertrat das Ziel eines
demokratischen Sozialismus, gehörte zur linken Opposition bereits in der
DDR. 1961 siedelt er in den Westen über. 1962 war er in Westberlin an der
Gründung der "Subversiven Aktion" beteiligt, die sich als ein deutscher
Flügel der -> Situationistischen Internationale verstand. Kurz vor seinem
Tod nahm er 1979 am Gründungskongress der Grünen teil.
Entfremdung: War einer der Lieblingsbegriffe der 68er-Bewegung. Demnach sei
der gemeine Mensch im Kapitalismus durch die Art seiner Arbeit und deren
Organisation seinen tatsächlichen und höheren Bedürfnissen entfremdet.
Viele Anhänger der 68er-Bewegungen verklärten zu diesen angeblich
wichtigsten Bedürfnissen des Menschen intellektuelle und künstlerische
Tätigkeiten, die größten Stummköpfe brächten dem hingegen
seriell-industrielle Arbeiten hervor. Ein neuer Elitismus war geboren, der
bis heute in jede Bildungsdebatte hineinspielt.
Establishment: Kampfbegriff der Studentenbewegung. Wurde als Sammelbegriff
gegen die herrschenden Verhältnisse und die verfestigten Strukturen der
Gesellschaft - vulgo: gegen das ->System in Stellung gebracht. Das
bekannteste Beispiel, das aber auch die im Begriff enthaltene Anmaßung
zeigt, ist die Parole: "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum
Establishment".
Existenzialismus: Die Strömung der Existenzphilosophie aus Frankreich
beeinflusste neben der Frankfurter Schule die 68er-Bewegung nachhaltig. Der
E. stand für eine allgemeine Geisteshaltung, die sich stilistisch im Tragen
schwarzer Rollkragenpullover oder dem Hören von Jazz-Musik niederschlug,
während man die Werke von Jean-Paul Sartre, Albert Camus oder Simone de
Beauvoir las und den Film Noir im Kino bewunderte.
Familie: Unheilinstitution im Bewusstsein der avanciertesten Kader von 68,
besser: die bürgerliche Kleinfamilie. Die Erfahrung, die der Aversion zur
F. voranging, war eine des lähmenden Schweigens am Mittagstisch, der
Leistungsanforderungen, der kalten Schlafzimmer und des Gummibaums in der
Stube, möglicherweise auch misslungener ödipaler Entflechtungen wie
überhaupt falscher Ehen. F. galt als Hort der Verderbnis, hier wurden
Kinder und Frauen geknechtet und geknetet für das Funktionieren des
Kapitalismus. In F. wurde das gezüchtet, was Adorno und Horkheimer als
->autoritären Charakter begriffen.
Flohmarkt: Eine marktwirtschaftliche Form, eine Art Mall an frischer Luft,
eine Institution, die sich aus - finanzieller Not geschuldeter -
Mittelknappheit der Studenten heraus entwickelte. Auf F. fanden sich
Kostbarkeiten, die ihre Vorbesitzer, aus Vorliebe zum Resopalhaften, auf
die Straße stellten.
Flowerpower: Schlagwort der ->Hippiebewegung, die von San Francisco
ausgehend die aus ihrer Sicht sinnentleerten Ideale der
Wohlstandsgesellschaft infrage stellt und zur Abkehr von bürgerlichen
Zwängen und Tabus aufruft. Erstmals geprägt wurde der Begriff angeblich
1965 vom Schriftsteller Allen Ginsberg. Unsterblich ist Scott McKenzies
Songzeile: "If you go to San Francisco, be sure to wear some flowers in
your hair".
Fokustheorie: Sie beruht auf den Ideen Che Guevaras (1928-1967) und
beinhaltet ein voluntaristisch genanntes Revolutionskonzept. Traditionelle
Marxisten hatten bis zu Ches Schriften umständlich versucht, sogenannte
objektive wirtschaftspolitische Gründe herauszudestillieren, nach denen
eine Weltregion reif zum Umsturz sei und eine andere eben nicht. Nach dem
Vorbild der kubanischen Revolution behauptete Guevara jedoch, dass ein
Fokus, eine entschlossene Kerngruppe von Revolutionären genüge, um
erfolgreich eine revolutionäre Erhebung in der ausgebeuteten ländlichen
Bevölkerung auszulösen.
Funktion des Orgasmus: Floskel, die den esoterischen Schriften Wilhelm
Reichs entnommen wurde - einem Theoretiker, der Ende der Fünfzigerjahre
starb, aber seine Erkenntnisse in den Wirren des Ersten Weltkriegs gewann.
Theorie: Ein tüchtiger, gemeinsamer, koital-genitaler Orgasmus ist
behilflich, den Kapitalismus mit besonderer Energie subversiv zu
unterlaufen.
Gammler: Sammelstichwort für alle, die dem deutschen Gartenzwerg nicht
passten. Leute, die nicht arbeiten, herumsitzen, lange Haare trugen,
Widerworte gaben, sich Befehl und Gehorsam aufreizend lässig widersetzten.
Als Mittel, ihnen den Garaus zu machen, fielen im öffentlichen Leben
häufiger Worte wie "Gaskammer" oder Reisetipps wie "Geh doch nach drüben".
Gastarbeiter: Der blinde Fleck von 68. Ende der Sechzigerjahre hatten die
G. längst den urdeutschen Proleten ermöglicht, Angestellte werden zu
können, Arbeitnehmer in Berufen, bei denen sie sich nicht die Finger
schmutzig machen mussten. Nun fegten und kehrten G. den Müll weg. Die
Schriftsteller Emine Sevgi Özdamar hat in "Die Brücke vom Goldenen Horn"
auch ihnen ein Denkmal gesetzt; die elenden Schattenseiten des Daseins als
G. hat Günter Wallraff in den frühen Siebzigern dokumentiert in seinen
"Industriereportagen". 68 kannte Ausländer nur als Genossen und Genossinnen
aus unterdrückten Ländern, nicht als Deutsche in spe.
Große Koalition: Im Oktober 1966 zerbricht die Bonner Regierungskoalition
von CDU/CSU und FDP. Rasch einigen sich die Bundestagsfraktionen von
CDU/CSU und SPD auf die Bildung einer großen Koalition. Bereits am 1.
Dezember 1966 wählt der Bundestag Kurt Georg Kiesinger (CDU) zum neuen
Bundeskanzler. Der SPD-Vorsitzende Willy Brandt wird neuer
Bundesaußenminister. Die "Superregierung" der g. K. strebt als Hauptziele
die Beendigung der Wirtschaftskrise und die Verabschiedung einer
Notstandsverfassung an. Die Notstandsgesetze treten am 28. Juni 1968 trotz
aller Proteste, vor allem von der ->APO, in Kraft.
Haschrebellen: Mit der Ermordung Benno Ohnesorgs durch die Polizei am 2.
Juni 1967 radikalisierten sich auch die subkulturell orientierten Ausläufer
der Protestbewegung. Insbesondere in Westberlin entstanden aus dem sich
->antiautoritär verstehenden Milieu erste Vorläufergruppen der
westdeutschen Stadtguerilla. Sie trugen Namen wie Schwarze Ratten,
Tupamaros West-Berlin, firmierten als Blues und richteten sich polemisch
gegen die aufkommenden studentisch-marxistischen Orthodoxien. Im rigiden
Umfeld der postfaschistischen Bundesrepublik propagierten die Haschrebellen
andere Drogenpraktiken und nichtkonsumistische Lebensweisen. Über die
Entwicklung dieser Szenen zwischen "Spaßguerilla" und anti-israelischen,
-amerikanischen Aktionismus geben exemplarisch Auskunft: Ulrich
Enzensberger "Die Jahre der Kommune 1. Berlin 1967-1969" (Köln 2004) und
Ralf Reinders/Ronald Fritzsch, "Die Bewegung 2. Juni" (Berlin 1995).
Hippies: Angehörige einer in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre in den USA
entstandenen Protestbewegung, in der Jugendliche gegen die Wohlstands- und
Leistungsgesellschaft rebellierten. Der in ihren Augen "sinnleeren"
Mittelstandsgesellschaft stellten die Hippies das Ideal einer
"sinnerfüllten", von bürgerlichen Wertvorstellungen und Zwängen freien Welt
entgegen (->Flowerpower), das sie in freien, naturbezogenen, auf
ekstatisches Glückserleben in Liebe, Musik und Rauschmittelgenuss
gerichteten Gemeinschaften zu leben versuchten.
Imperialismus: Natürlich wusste auch die Studentenbewegung, dass das
Zeitalter des klassischen I. mit dem Ersten Weltkrieg vorbei war. Mit
diesem endete die europäische Expansionswelle, die versuchte, in
kolonialistischer Absicht Weltreiche zu bilden. Doch im Gefolge von Kongo-
oder Kuba-Krise, Algerien- oder Vietnamkriegen sahen viele das alte Muster
eines rassistischen I. weiter wirken, an deren Spitze nun alleinig die USA
stünden. Im Namen des "Anti-Imperialismus" sollte die Neue Linke in der
Bundesrepublik bald ihre verheerendsten Fehler begehen. Erste Anzeichen
waren Ende der 1960er bereits in den Anschlägen auf US- oder israelische
Einrichtungen sichtbar. Frantz Fanon (1925-1961) begründete ausgehend vom
algerischen Unabhängigkeitskampf das Gewaltprinzip als universellen
Katalysator für die antikoloniale Erhebung. Sein 1961 erschienenes
Hauptwerk "Die Verdammten dieser Erde" war lange Zeit so etwas wie die
Bibel der "antiimperialistischen Linke".
Kapitalismus: Das Mantra des Protests überhaupt. Gegen den musste was getan
werden, auf dass er zum Sozialismus umgemodelt werden konnte. K. war die
Antwort auf alle Probleme, ökonomisch, sexuell, moralisch und überhaupt. K.
galt als teuflisch, weil dieses System die Menschen dazu bringt, in Lohn
und Brot zu stehen und sie daran hindert, miteinander zu sprechen, sich gut
zu verstehen, und außerdem war K. ein anderes Wort für USA, und die führten
in Vietnam gegen Vietnam Krieg, einen imperialistischen Krieg.
Kommune: Wohnform, geboren aus dem Umstand, dass es nicht genügend
Studentenzimmer gab und die wenigen Privatzimmer häufig von Vermietern
angeboten wurden, die sich wie Gestapobeamte in die Privatsphäre ihrer
Mieter einmischten. Die K. war das Lifestyleangebot, um der Vereinsamung,
der Vereinzelung im ->Kapitalismus zu entgehen: Gemeinsam, jenseits der
bürgerlichen Kleinfamilie, ohne Konkurrenz und viel Zärtlichkeit ein Leben
zu leben, das in sich die Utopie vorwegnimmt. Heute heißt das alles WG wie
Wohngemeinschaft und funktioniert nur selten.
Kritik: Der Wahnsinn für Kleingeister. Eigentlich nichts als die Übung,
Dinge zu unterscheiden, sie zu wägen und zu beurteilen. Aber K. stand für
Ätzendes, für die Kraft der Zersetzung - Menschen, die K. scheuten, sahen
es oft darauf ab, die Dinge nicht hinterfragen zu lassen. K. war nötig
gegen die Autorität der Institutionen, gegen die Väter und Mütter, außerdem
für alle möglichen Umstände, in Schule und Beruf.
Kulturrevolution: Fanal aus China, hierzulande missverstanden als Aufbruch
mit menschlichem Antlitz. Maoisten träumten von der K. und wollten, dass
sie auch bei uns gelebt wird. Von dieser Hoffnung blieb nichts. Heute wird
das Wort Kultur gern verballhornt: Kultur des Sprechens, des Mutes, des
Lebens, der Schönheit. Kultur kann offenbar alles sein und damit nichts.
Nonkonformismus: Jemand, der dem N. anhängt, gibt zu verstehen, besonders
zu sein. Ein Eigenbrötler, Individualist, ein Exzentriker, einer, der auf
seine Macken hält, nicht auf das, was die Mehrheit, die spießige, vorgibt.
Niemand will heute mehr Konformist sein, alle halten auf Eigenes. Reinhard
Mey hat in seinem Lied "Annabelle" sowohl die kruden Auswüchse erster
Feministinnen attackiert wie auch bekannt gegeben, dass er sich niemals
eingemeinden lassen will.
Ödipus: Held der Psychoanalyse, den französische Philosophen wie Michel
Foucault als ewigen Sisyphos des bürgerlichen Regimes begriffen, auch seine
Landsleute Gilles Deleuze und und Félix Guattari empfanden so. Ihre
wissenschaftliche Lieblingsfigur nannten sie Antiödipus, der im Hader mit
den Mächten sich von keinem übermächtigen Vater mehr umhauen lässt. Die
Psychoanalyse hatte viele Vokabeln zur Zeit von 68 beigetragen, etwa
Verdrängung oder Unbewusstes.
Pahlevi, Reza: Mohammad Reza Schah Pahlavi (1919-1980), letzter Herrscher
auf dem persischen Pfauenthron, musste am 16. Februar 1979 vor der Revolte
linker und islamistischer Kräfte außer Landes fliehen. Putschte 1953
mithilfe von US-Geheimdiensten gegen die demokratisch gewählte Regierung
von Mohammad Mossadegh. Gegen die Mullah-Diktatur scheint der Schah heute
auch der Linken fast schon als ein harmloser Zwerg. Doch in den 1960ern
galt der Handlanger des US-Öl-Imperialismus als einer der fiesesten
Gewaltherrscher weltweit.
Prager Frühling: Versuch der tschechoslowakischen Kommunisten, sich von
Moskau loszusagen und einen Sozialismus demokratischer Art zu etablieren.
Im August 1968 marschierten die Staaten des realen Sozialismus in die CSSR
ein - Alexander Dubcek wurde entmachtet, der Moskauer Sozialismus erholte
sich von dieser Aggression nie.
Randgruppenstrategie: Weil das Proletariat, so die Theorie, satt und faul
ist, wird es keine Revolution machen. Die Unterdrückten seien eher
Randständige, Heimbewohner, Alte, Psychiatrieinsassen, Obdachlose. Brächte
man sie zusammen, wird eine Revolution möglich. Diese R. irrte in Gänze.
Sexfront: Günter Amendts Bestseller, der die Jugend dazu ermutigte, sexuell
zu probieren, was eben so geht. Auch steht dort lupenrein geschrieben, dass
vom Wichsen das Rückenmark nicht schwindet und dass Sperma nicht nur für
die Besamung einer weiblichen Eizelle gut ist. Aus heutiger Sicht birgt es
nur Banales, aber damals konnte S. als Bibel des nichtspießigen
Körperlebens verstanden werden.
Situationismus: Die Situationistische Internationale (S.I.) war eine von
1957 bis 1972 existierende Gruppe aktivistisch orientierter Künstler,
Stadtplaner und Theoretiker. Sie begriff sich in der Tradition der
klassischen Avantgarden (Dada- und Surrealismus), vertrat also neben der
Negation des kapitalistischen Betriebs eine Aufhebung der Trennung von
Kunst und Politik und deren Überführung in eine unmittelbare radikale
Lebenspraxis. Ihre bekanntesten Vertreter waren der Maler Asger Jorn sowie
der Theoretiker Guy Debord ("Die Gesellschaft des Spektakels"). Deutsche
Ausläufer fanden sich in der Gruppe Spur in München oder der Kommune 1 in
Berlin. Von Spaßguerilla, Punk bis zu heutigen Kunst- und Popphänomenen
geht vieles auf das Wirken des Situationismus zurück.
System: Weil es kein richtiges Leben im Falschen (Theodor W. Adorno) gibt,
muss alles, was einen umgibt, mehr sein als Gesellschaft, nämlich das S.
Unter S., eigentlich eine technische Vokabel, wurde das ganze
undurchschaubare Regelwerk der bürgerlichen Gesellschaft verstanden. Niklas
Luhmann hatte mit Sozialismus nix im Sinn, aber mit seiner Systemtheorie
die wichtigste soziologische Theorie des ausgehenden 20. Jahrhunderts
entwickelt.
Trampen: Im Lexikon steht, das Trampen sei eine Form des preisgünstigen
Reisens. In Wahrheit ging es um das T. als solches, als Suchbewegung mit
dem Daumen zur Seite gereckt, um Mitfahrgelegenheit buhlend, hoffend, dass
der Fahrer oder (seltener) die Fahrerin freundlich ist und gute Geschichten
zu erzählen hat. Durch etliche Gewaltfälle von Autofahrern gegen Tramper -
die wiederum den Trampern angedichtet wurden, vor allem durch die
bürgerliche Presse - kam das T. in Verruf.
Utopie: Im Hier & Jetzt zu leben war für 68 das eine, das andere die Pflege
von Utopien, die religiös anmutende Ausformulierung dessen, was sein
könnte, wenn es denn gegen die Herrschenden, das ->System, den
->Kapitalismus endlich wahr würde. U. ist die Letztvokabel gegen alle
Pragmatiker, deren Blicke traurigerweise nie über den Horizont
hinausschauen wollten.
USA-SA-SS: Objektiv antisemitische Demonstrationsformel - nicht selten
gehört während der Ära von 68. Wegen Vietnam wurden die USA beschuldigt,
dort einen ebenso großen Völkermord zu veranstalten wie die
Nationalsozialismus an den Juden und in Osteuropa. Kritiker sehen dies als
deutsche Entlastungsformel.
28 Dec 2007
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