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# taz.de -- Als das Volk gezählt wurde: Eine traurige Erhebung
> Vor 20 Jahren waren die Behörden mit der Auszählung der letzten
> Volkszählung beschäftigt. Ein Ereignis, das derzeit nicht gefeiert,
> sondern bald wiederholt werden dürfte.
Bild: Proteste gegen die Volkszählung, Berlin 1987
Endlich Studium, eigene Bude, Freiheit und Unabhängigkeit vom Elternhaus –
und da flattert eines schönen Frühlingsmorgens ein giftgrüner Umschlag ins
Haus: „Stadt Heidelberg. Erhebungsstelle Volkszählung 87“. Einen ewig
langen Fragebogen soll ich ausfüllen.
Und wozu?
Damit irgendwelche neuen Autobahnen oder andere Bauprojekte ihre
Berechtigung erlangen und die Bundesrepublik zur endgültigen Betonwüste
verkommt? Und was ist überhaupt mit dem Datenschutz?
Zum ersten Mal bei einer Volkszählung – die letzte war 1970 – können ja
Daten elektronisch gespeichert und weiterverarbeitet werden. Ich weigere
mich und bekomme die Folgen zu spüren: Telefonterror und nette Hausbesuche.
Man droht mir mit Gericht und polizeilicher Registrierung. Von wegen
Freiheit.
Obwohl 1987 bei einem Großteil der deutschen Bevölkerung die Zählung
umstritten ist und 290 Rechtsanwälte zum Boykott aufrufen, sind es nur
wenige, die sich weigern, die Datenbögen auszufüllen: Ihr Widerstand gegen
die Allgewalt des Staates bringt sie vor Gericht. Noch im selben Jahr lässt
die Barschelaffäre die Diskussionen um den „gläsernen Bürger“ schnell in
Vergessenheit geraten, und zwei Jahre später begräbt der Mauerfall Nachteil
wie möglichen Nutzen dieser von Kohl protegierten Volkszählung.
Und die Daten? Wo sind sie geblieben? Sie werden überwiegend als
Vergleichsbasis genutzt, wie zahlreiche wissenschaftliche
Veröffentlichungen zeigen. Und die Anfechtungsklagen, die bei
Rechtsschutzversicherung bis zu 100.000 Mark durch alle Instanzen abgedeckt
waren? Rund 77.000 Fragebogen werden am Stichtag der Volkszählung, dem 25.
Mai 1987, leer abgegeben. Der Boykott verläuft sich schließlich im Sande.
Manches Kuriose ereignet sich bei der letzten Volkszählung: So vergleicht
der spätere Einigungskanzler Helmut Kohl die Volkszählungsgegner mit
Faschisten.
In Berlin-Spandau indessen lassen die Alliierten die Abgabe eines
Fragebogens für den im Kriegsverbrechergefängnis internierten
Nationalsozialisten Rudolf Heß nicht zu. Was hätte er wohl auf Fragen wie
„Welche Tätigkeit üben Sie aus?“ und „Name und Anschrift Ihrer
Arbeitsstätte“ geantwortet?
Kurz nach den Landstagswahlen untersucht in Rheinland-Pfalz die Polizei
Privatwohnungen und Büros von möglichen Boykott-Aktivisten. Das
baden-württembergische Landeskriminalamt speichert sogar Autokennzeichen
und Daten von Volkszählungsgegnern.
Der Boykott der Volkszählung sei „kein Kavaliersdelikt“, meint dazu
Stuttgarts Oberbürgermeister Rommel. Laut Fritz Kuhn, dem Fraktionssprecher
der baden-württembergischen Grünen, gehe es jedoch bei der Volkszählung
„nicht nur um den Datenhaufen, sondern um Grundfragen der Demokratie“.
Angesichts des demografischen Wandels plant nun die Bundesregierung mit der
EU eine neue Volkszählung für 2010 und 2011 – rund 39 Jahre nach der
letzten in der ehemaligen DDR und 24 Jahre nach der letzten in
Westdeutschland.
Laut Bundesinnenminister Schäuble werde dadurch unter anderem gezielter
investiert, werden Fehlplanungen vermieden und Steuereinnahmen gerechter
verteilt.
Der erstmals registergestützte Zensus bezieht Melderegister, das Register
der Bundesagentur für Arbeit, statistische Stichprobe-Erhebungen und eine
postalische Befragung von Immobilieneigentümern mit ein. Dadurch müssten
nur 10 Prozent der Bevölkerung befragt werden, was die Kosten von 1,4
Milliarden auf 450 Millionen Euro reduzieren würde.
Die westdeutsche Volkszählung von 1970 kostete 170 Millionen Mark, die von
1987 überstieg mit 1 Milliarde bei weitem die geplanten Kosten von 545
Millionen Mark und belastete vor allem die Kommunen. Auch sei laut Schäuble
bei der nächsten Volkszählung die Anonymität der Daten garantiert, was aber
für das Internet schon lange nicht mehr gewährleistet werden kann –
Stichwort: „Online-Durchsuchungen“.
Sind wir dadurch nicht schon alle x-mal und damit mehr als ausreichend
erfasst? Bald werde ich also wieder einen Fragebogen in meinem Briefkasten
finden. Den Fragebogen von 1987 habe ich nicht ausgefüllt. Einige Angaben
zog mir ein Zähler der Erhebungsstelle am Telefon geschickt aus der Nase –
und dann war Ruhe.
Auf einem meiner Koffer klebt noch der vom Grafiker Klaus Staeck entworfene
Aufkleber mit dem Ausruf „Lass dich nicht erfassen!“. Seine Farben sind
nicht verblasst.
2 Jan 2008
## AUTOREN
Carola Wolkenstein
## TAGS
Schwerpunkt Überwachung
Bundestag
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