# taz.de -- Kolumne Berliner Ökonomie: Hier fegt der Gast noch selbst | |
> Wer nach dem Geist der Vorwendezeit sucht, muss im Berliner Wrangelkiez | |
> eine ganze Weile suchen. | |
Bild: Eisenskulptur von Anatol Herzfeld in Hombroich | |
Vor einem Jahr machte der Widerstand arabischer und türkischer Jugendlicher | |
gegen ihre polizeiliche Festnahme den Wrangelkiez am Schlesischen Tor, | |
benannt nach einem General der Konterrevolution von 1848, fast zu einer | |
No-go-Area. Demgegenüber hat sich die Gegend um die Oranienstraße "gut | |
entwickelt". Aus Gemüseläden wurden Cocktailbars und Boutiquen, | |
allabendlich klumpen sich dort Gruppen von Touristen, und zahlreiche | |
Bürgerinitiativen bemühen sich um die Aufwertung des "öffentlichen Raums". | |
In der Waldemar- und Naunynstraße befürchtet die türkischstämmige | |
Bevölkerung zu Recht, von Privatinvestoren verdrängt zu werden. | |
Der Architekt Alvaro Siza gewann 1980 den IBA-Wettbewerb am Schlesischen | |
Tor. Für seine schlichte Blockrandbebauung erntete er heftige Kritik. Die | |
graue Fassade mit den monotonen Fensterabständen schien die Traurigkeit | |
mancher Mietskaserne, die 90 Jahre zuvor entstand, noch zu übertrumpfen - | |
trotz der leicht geschwungenen Bauform und einer überhöhten Attika. | |
Ein kluger Sprayer schrieb "Bonjour Tristesse" auf das Haus - es war mehr | |
als nur eine Architekturkritik. Von der Oberbaumbrücke aus wirkt das | |
Gebäude wie ein programmatisches Eingangstor zu einem Kiez mit großen | |
sozialen Problemen. Diese Aufschrift mit dem spiegelverkehrten Doppel-S | |
blieb nicht nur erhalten, sie wurde auch zum inoffiziellen Namen für das | |
Gebäude. Sogar die Umgebung bezog sich immer wieder auf sie. So dekorierten | |
die Besitzerinnen des Buchladens gegenüber gerne Bücher mit dem Wort | |
"Tristesse" ins Schaufenster, und auf der Schlesischen Straße nannte eine | |
Russlanddeutsche ihre Galerie "Tristesse". Dort ist mittlerweile eine | |
Boutique eingezogen, von dem Schriftzug blieben lediglich - | |
geschmäcklerisch - die beiden "S" übrig. Auch das Schaufenster des | |
Buchladens veränderte sich. Ausgestellt werden zurzeit "the very busy | |
calendar" mit 100 Stickern für Termine, ein Faltsatz für eine papierne | |
Espressokanne und ein Hörbuch "A Day in New York". | |
Alvaro Siza schrieb über die Veränderungen, die eine Stadt überrollen: | |
"Familien werden herbeiströmen, die vorhandene sanfte Ordnung wird | |
untergraben werden, die beginnenden Kulturen werden zerstört. Das Café, der | |
Tabakladen werden sich mit Fremden füllen." | |
Befürchtet wird die Verdrängung der "sozial Schwachen", und zwar dadurch, | |
dass die Dichte an Läden zunimmt, die auf die globalen Bedürfnisse | |
"Kreativer" zugeschnitten sind. Im "Wendel", dem "clubcafé für gegenwärtige | |
musik und grafik die von da wo sie einmal ist nicht wieder weggeht" sind | |
die Weinpreise bedrohlich. An der Schlesischen Straße reihen sich | |
zahlreiche Existenzgründungen dieser Art, und am Abend halten sich Cliquen | |
von 21-Jährigen dort auf. | |
Schon in der Wrangelstraße ist der ganze Spuk weit weg. Obwohl sich auch | |
hier so mancher im Erfolgsjargon versucht: Das "Ber Wer!" wirbt mit | |
"Rinderrouladen an Zucchinitempura", man muss sich hier aber das | |
kulinarische Vergnügen an einem Nierentisch im Trödelsessel reinziehen. Und | |
beim Badenser "Da Gino" muss, wer ein Glas Wein trinken will, vorher einen | |
Tisch reservieren. | |
Ich beschließe, einen Schnaps in der Bull Bar zu trinken. Im Sommer stehen | |
die Biertrinker bis vor die Tür des Punkrockladens. Hier ist die Welt noch | |
in Ordnung. Man bestellt Augustiner oder Härteres, bezahlt stets seinen | |
Deckel und geht, wenn man betrunken ist. Die ehemalige Besitzerin dieser | |
Kiezkultur-Einrichtung hatte vor einigen Jahren eine Dependance - | |
gewissermaßen als kritische Rekonstruktion des Originals - in der | |
Fürbringer Straße, also im "Spießer-Kreuzberg 61" eröffnet. Aber weder die | |
25 Punk-CDs, zu denen die markentypischen Bedienungen | |
(Einstellungskriterium: Konflikt mit der Mutter, schwarze Kleidung) | |
verpflichtet wurden, noch das reichhaltige Flaschenbierangebot konnten aus | |
den Gästen echte Punks machen. | |
Hier in der Wrangelstraße lebt noch der Geist der guten Vorwendezeit. Im | |
Gastraum befinden sich heute mit Ausnahme der Barfrau ausschließlich | |
betrunkene Männer. Alle zwei Minuten fällt ein Aschenbecher oder ein Glas | |
zu Boden. Die Wirtin bleibt gelassen. Der Gast fegt hier noch selbst. Wann | |
immer einer der Jungs mit Handfeger und Schaufel an mir vorbeieiert, ernte | |
ich ein schüchternes Lächeln. | |
Ich frage die Wirtin, ob sie auch meint, dass sich hier alles verändert. | |
"Nö, hier kann man noch immer nirgendwo einkoofen." Ein Gast wünscht mir | |
"Frohes Neues." Danach beginnt er unaufgefordert vom Leben im Kiez zu | |
erzählen: "Meine Kinder habe ich hier auf die Schule getan. Die sollen mal | |
selber sehen. Hier sind nur Irre! Nicht, dass ich Rassist bin, ich bin ein | |
Linker, aber wenn da einer heiratet, kommen immer gleich 2.000 Leute. Das | |
ist Macht! Die Sippe kann machen, was sie will." Er war seit der Wende nur | |
einmal in der Oranienstraße, erfahre ich. Dort sei nichts mehr wie früher. | |
Ich beschließe nach Hause zu gehen. Mein Gesprächspartner ebenfalls. Er | |
brüllt: "Kati, ich will abdrücken." | |
Der IBA-Architekt Siza sah das alles eher rosig: "Die ganze Welt und die | |
ganze Erinnerung der Welt zeichnen unablässig die Stadt." | |
7 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Antonia Herrscher | |
## TAGS | |
Moderne Kunst | |
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