# taz.de -- Judentum: Wiedersehen mit den Nachbarn | |
> Eine intime Schau über jüdisches Leben in den Bezirken Schöneberg und | |
> Tempelhof zeigt, wo bis 1939 viele Juden wohnten. | |
Bild: Früher lebten viele Juden in Berlin. Heute sieht man sie selten. | |
Wer in den nächsten drei Monaten vor dem Bürgeramt des Schöneberger | |
Rathauses auf seine Papiere wartet und sich umschaut, kann nur ein paar | |
Schritte weiter ganz neue Entdeckungen machen: Die Ausstellung "Wir waren | |
Nachbarn", die an diesem Sonntag eröffnet wird, informiert über das | |
Schicksal der Juden, die in Schöneberg und Tempelhof lebten. | |
Die Ausstellung ist als Bibliothek gestaltet: ein Saal mit vielen Tischen, | |
darauf Leselampen und Familienalben. An den Wänden hängen gut 6.000 kleine | |
Karteikarten. So viele Juden aus Tempelhof und Schöneberg wurden von den | |
Nazis deportiert. Jede Karte vermerkt Name, Geburtsdatum, Wohnadresse und | |
Tag der Deportation. In den 120 Familienalben stecken die Geschichten von | |
120 Juden - alte Fotos aus der Schulzeit, Familien vor ihren Geschäften. | |
Die Briefe bergen Kindheitserinnerungen an Hinterhofspiele genauso wie | |
Abschiedsgrüße der Eltern am Vorabend der Verschleppung. | |
Vor 1933 lebten rund 160.000 Juden in Berlin, davon etwa 16.000 in | |
Schöneberg und 2.000 in Tempelhof. "Gerade die Gegend rund um den | |
Bayrischen Platz war sehr angesagt, vergleichbar heute mit dem Stadtteil | |
Mitte, und zog viele Prominente an", erklärt Kuratorin Kathrin Kaiser. Hier | |
lebten der Kritiker Alfred Kerr, der Philosoph Erich Fromm, die Dichterin | |
Else Lasker-Schüler, die Schriftstellerinnen Gertrud Kolmar und Nelly Sachs | |
und ihr Kollege Kurt Tucholsky. Und Albert Einstein. | |
Die Schau beinhaltet auch einen Dokumentarfilm, in dem alte Schöneberger | |
Anekdoten aus ihrer Kindheit im "Dritten Reich" berichten. Die Erzähler | |
werden dabei nicht vorgestellt - die Besucher wissen zunächst nicht, wer | |
von ihnen jüdisch ist und wer nicht. So wird der Anreiz geschaffen, selbst | |
neugierig zu werden. Vor allem die Familienalben laden dazu ein, sich lange | |
in sie zu vertiefen und den Weg nachzuvollziehen von der Diskriminierung | |
durch die Rassegesetze über Ausgrenzung im Beruf bis zur Denunziation durch | |
Nachbarn. | |
Von dem Material stammt nur wenig aus öffentlichen Archiven, häufiger | |
handelt es sich um bisher noch nicht öffentlich zugängliche Dokumente, die | |
die Überlebenden oder die Angehörigen der Ermordeten privat aufbewahrten. | |
Die Ausstellung entstand in jahrelanger Arbeit. Im vergangenen Jahr hat | |
Kaiser die Ausstellung mit ihren Helfern weiter ausgebaut. Erstmals wurde | |
sie 2005 im Rathaus Schöneberg gezeigt - anschließend beschloss der Bezirk | |
die jährliche Wiederholung bei gleichzeitigem Ausbau der Inhalte. | |
So kamen jetzt zum Beispiel Familienalben des Aktfotografen Helmut Newton | |
und des Schriftstellers Carl Zuckmayer hinzu. Viele Besucher der | |
Ausstellung waren in den vergangenen Jahren vor allem über einen Aspekt | |
überrascht: wenn sie aus den Alben erfahren, dass in vielen jüdischen | |
Familien lange nicht über die Zeit vor und nach der Emigration gesprochen | |
wurde. | |
Überlebende würden sich immer wieder die Frage stellen, warum ausgerechnet | |
sie selbst überlebt haben, viele Angehörige und Freunde aber nicht. | |
26 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Heiser | |
Sebastian Heiser | |
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Humor | |
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