# taz.de -- Europa: Zu arm für Deutschland | |
> Vier Jahre lebte eine Französin in Berlin. Dann musste sie das Land | |
> verlassen. Ausländerbehörde meint, die Künstlerin verdiene zu wenig. | |
> Anwältin rät EU-Bürgern, sich über Rechte zu informieren. | |
Bild: Fröhliches Schweineleben: Jungtiere auf einem Ökobauernhof | |
So hatte sich Anne-Marie Artru ihren Abschied von Berlin nicht vorgestellt: | |
Sie packte das Nötigste, ließ ihren Lebensgefährten in der Moabiter Wohnung | |
zurück und fuhr zu ihren Eltern nach Lyon. Die Ende 2007 angetretene Reise | |
war alles andere als freiwillig: Im Briefkasten lag ein Schreiben der | |
Ausländerbehörde. Die Französin Artru habe sich binnen 14 Tagen mit | |
Flugticket und Reisepass in der Behörde einzufinden, damit man ihre | |
schnellstmögliche Ausreise aus Deutschland überprüfen könne. | |
Zuvor hatte das Amt der EU-Bürgerin mit Abschiebung gedroht. Sollte Artru | |
das Land nicht freiwillig verlassen, werde man ihre "Ausreise in Ihrem | |
Herkunftsstaat Frankreich veranlassen". Deutschland schiebt eine | |
EU-Bürgerin nach Frankreich ab - obwohl innerhalb Europas das | |
Freizügigkeitsrecht gilt. | |
Die 43-jährige Künstlerin ist zu arm für Deutschland. Sie muss gehen, weil | |
sie weniger als 600 Euro im Monat verdient. "Die europäische Freizügigkeit | |
gilt anscheinend nicht für die Armen", sagt sie bitter, als sie am Telefon | |
von ihren Erfahrungen mit den deutschen Behörden erzählt. "Ich habe | |
jahrelang in Berlin gelebt. Und plötzlich gab man mir das Gefühl, | |
Europäerin zweiter Klasse zu sein." | |
Der Ärger begann, als Anne-Marie Artru Geld brauchte. 2003 zog sie nach | |
Prenzlauer Berg. Anfangs lief es gut: Ihre Tanztheater-Stücke liefen auf | |
verschiedenen Off-Bühnen, es gab gute Kritiken. Doch bald wurde es | |
finanziell eng, bezahlte Anträge blieben aus, Projektförderungen | |
scheiterten. Artru gab Französischunterricht und zog ins billige Moabit. | |
Doch das reichte nicht zum Leben. Freunde rieten ihr, Hartz IV zu | |
beantragen. Im Jobcenter Moabit verlangte man von ihr dafür eine | |
Freizügigkeitsbescheinigung. Diese Aufenthaltsbestätigung für | |
EU-BürgerInnen bekomme sie bei der Ausländerbehörde, erklärte man ihr. | |
Hartz IV kriege sie niemals, beschied ihr dort eine schlecht gelaunte | |
Beamtin, ließ sie ein Formular ausfüllen und beendete die Audienz. | |
Die Ablehnung der Freizügigkeit kam prompt per Post. Erst auf Nachfrage | |
erfuhr Artru die Begründung dafür: Sie verfüge nicht über das erforderliche | |
Mindesteinkommen von 600 Euro im Monat. Daher bekomme sie keine | |
Bescheinigung. Ohne Bescheinigung konnte die Künstlerin wiederum kein Hartz | |
IV beantragen. Die absurde Pattsituation schlug ins Bedrohliche um, als | |
sich erneut die Ausländerbehörde meldete. In scharfem Ton wurde der | |
43-jährigen Französin beschieden: "Sie sind verpflichtet, Deutschland zu | |
verlassen." Der Grund: "Entgegen Ihrer Erklärung sind Sie nicht in der | |
Lage, Ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten." Artru hatte | |
beim Ausfüllen des Antrags wahrheitsgemäß angegeben, von ihrem Vater mit | |
400 Euro im Monat unterstützt zu werden. Damit galt sie dem Amt als nicht | |
erwerbstätig. | |
Aus der EU-Bürgerin Anne-Marie Artru war eine Unerwünschte geworden, der | |
die Abschiebung drohte. Sie klagte vergebens gegen den Bescheid, auch | |
Prozesskostenhilfe wurde ihr nicht bewilligt. Anne-Marie Artru, die nach | |
Berlin gekommen war, um Tanztheater zu machen, saß in einer ungeheizten | |
Moabiter Wohnung und sollte für ihre eigene Abschiebung zahlen. Ein | |
Skandal? | |
Schon, aber "zum Teil auch einfach unglücklich gelaufen", sagt Kerstin | |
Becker von der Rechtsanwaltskanzlei Bümlein, die Artru als Anwältin | |
betreut. "Es ist grob europarechtswidrig, einer EU-Bürgerin Abschiebung | |
anzudrohen, nur weil sie bedürftig ist", erklärt Becker. Eine sorgfältige | |
Prüfung des Einzelfalls sei unterlassen worden. Leider habe sich Artru erst | |
an sie gewandt, als die Widerspruchsfrist gegen den Bescheid verstrichen | |
war, daher blieb die Klage erfolglos. Außerdem hätte sich ihre Mandantin | |
dem Amt gegenüber als freischaffende Künstlerin kenntlich machen müssen, um | |
als Selbstständige den Schutz des Europarechts zu genießen. | |
Hätte sie rechtzeitig eine Steuernummer beim Finanzamt beantragt, wäre sie | |
auf der sicheren Seite gewesen. Stattdessen meldete sie vor längeren | |
Frankreichaufenthalten ganz ordentlich ihren Wohnsitz ab - ohne zu ahnen, | |
dass dies ihre Chancen noch verschlechterte. Denn nur nach fünf Jahren | |
ununterbrochenen Aufenthalts bekommen EU-BürgerInnen automatisch ein | |
unbegrenztes Aufenthaltsrecht - und Anspruch auf Sozialleistungen. "Man | |
muss sich gut informieren, um in den richtigen Status zu rutschen", sagt | |
die Anwältin, die ihrer Mandantin nun hilft, sich von Frankreich aus auf | |
einen zweiten Anlauf in Deutschland vorzubereiten. Als amtlich gemeldete | |
Künstlerin kann sie nach erneuter Einreise einen zweiten Antrag auf | |
Freizügigkeit stellen. | |
Aber will Anne-Marie Artru überhaupt wieder dort leben, wo man sie nicht | |
mehr haben wollte? "Natürlich will ich zurück nach Berlin", sagt sie am | |
Telefon. "Mein Freund lebt da, ich habe viele Freunde, und Berlin ist eine | |
wunderbare Stadt. Wenn man von ein paar Beamten absieht." | |
5 Feb 2008 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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Haustiere | |
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